Die Kehrseite des indischen Wirtschaftswunders

Ausgebeutet und arbeitslos

Mit Sonderwirtschaftszonen lockt Indien ausländische Firmen. Während die städtischen Mittelschichten die Öffnung zum Weltmarkt unterstützen, erweist diese sich in den Augen der Dorfbevölkerung und der organisierten Arbeiterschaft als Bedrohung.

Um das Gelände läuft ein hoher Zaun aus Beton und Metall, der zusätzlich mit Stacheldraht gesichert ist. In der subtropischen Sonne stehen uniformierte Sicherheitsleute und bewachen den einzigen Eingang. Sie halten die ankommenden Lastwagen an und kontrollieren die Ladung. Ohne Prüfung kann hier niemand hinein oder hinaus. Denn obwohl dieses Gewerbegebiet mitten in Indien liegt, ist das Gebäude an der Durchfahrt eine Zollstation und ein Grenzposten.

Ausländisches Gebiet
"Die Sonderwirtschaftszone ist ausländisches Gebiet innerhalb Indiens, in dem besondere Regelungen gelten, um ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Die Zone untersteht direkt der Regierung von Indien. Rechtlich steht sie außerhalb des indischen Zollgebietes. Beides zusammen sorgt sowohl für eine schnelle Genehmigung Ihres Projektes als auch für den problemlosen Betrieb Ihrer Anlagen innerhalb der Sonderzone." So wirbt die Sonderwirtschaftszone in der südindischen Stadt Cochin um Investoren.

Auf dem 42 Hektar großen Gelände arbeiten über 8.000 Menschen, die Hälfte davon Frauen. 90 Betriebe aus unterschiedlichen Branchen haben sich hier angesiedelt: Hier werden Computersoftware und -hardware produziert, aber auch T-Shirts genäht. Die Unternehmen kommen meist aus Indien, aber auch aus Spanien, Belgien und England.

Alles geht

C. J. Matthew, der zuständige Regierungsbeauftragte für die Zone in Cochin, erklärt, warum indische Unternehmer und ausländische Investoren hierher kommen: "Die bürokratischen Vorgänge sind hier vereinfacht. Es ist völlig unaufdringlich. Mit anderen Worten: Sie können ihre Güter hierher bringen, ihre Produktion machen und exportieren. Niemand wird Sie hier besuchen, Sie inspizieren oder streng beaufsichtigen. Wer sich hier niederlassen will, muss nicht von einer Regierungsstelle zur anderen laufen. Alle Genehmigungen gibt es hier in diesem Büro."

Hinzu kommt: Fünf Jahre lang zahlen Unternehmen in den Sonderwirtschaftszonen keine Steuern, danach für weitere fünf Jahre nur die Hälfte. Sie können außerdem zollfrei Rohstoffe in die Sonderzonen einführen und weiterverarbeiten und haben gleichzeitig Zugang zum kostengünstigen hiesigen Arbeitsmarkt. Wenn sie ihre Waren dann auf den indischen Markt bringen wollen, fallen nur die üblichen Einfuhrzölle an.

Gebiete wie das in Cochin werden in Indien Special Economic Zones oder SEZ genannt. Mittlerweile gibt es 82 solcher Zonen in Indien, 250 weitere sind genehmigt und sollen demnächst in Betrieb gehen. Manche werden von nur einem Unternehmen genutzt, andere von mehreren; manche sind über 2.000 Hektar groß, andere nur 20 Hektar. Unterschiedlich ist auch das Lohnniveau: In vielen Firmen arbeiten Unqualifizierte für Niedriglöhne und bauen beispielsweise elektronische Geräte zusammen, in anderen arbeiten gut bezahlte Spezialisten zum Beispiel als Computerprogrammierer. Gemeinsam ist allen Zonen, dass die Regierung sich um die nötige Infrastruktur kümmert und massive Steuererleichterungen gewährt.

Entwicklungsfaktor oder Ausverkauf
Prinzipiell gilt in den Sonderwirtschaftszonen das normale Arbeitsrecht. Aber den indischen Gewerkschaften ist es bisher nicht gelungen, dort auch Fuß zu fassen. P. N. Venugopal ist Sprecher der Gewerkschaft Center of Indian Trade Unions. Er kennt die Arbeitsbedingungen vor Ort. Sein Fazit: besonders Geringqualifizierten ergeht es schlecht.
Viele Inder kritisieren diese Politik als Ausverkauf. Schließlich entgehen dem Staat durch die Steuererleichterungen gewaltige Summen. Regierungsvertreter erwidern darauf, durch die Sonderwirtschaftszonen entstünden Wachstum und damit Arbeitsplätze. Für den Gewerkschafter Venugopal ist dieses Kalkül falsch: "Sehr häufig findet heute in Indien nur noch die Montage statt. Die Einzelteile kommen von anderswo. Sie werden nicht von einer Kleinindustrie oder Heimindustrie außerhalb der Zone hergestellt. Nur dann würde Beschäftigung entstehen."

Trotz der scharfen Kritik von Gewerkschaften und Bauernverbänden hält die Mitte-Links-Regierung am Ausbau der Sonderzonen fest. Die Erfolge dieser Wirtschaftsstrategie stehen noch aus. Zwar wachsen die Investitionen in den Sonderwirtschaftszonen augenblicklich um etwa 50 Prozent jährlich, aber nicht alle diese Investitionen sind wirklich neu. Für eine Bilanz ist es noch zu früh. Die Zonen wachsen rasant, aber viele der Unternehmer, die sich nun über Steuergeschenke freuen, hätten wahrscheinlich ohnehin in Indien investiert. Und bisher kommt nur ein Viertel von ihnen aus dem Ausland.

Während westliche Unternehmer gerne den riesigen indischen Binnenmarkt erobern möchten, setzt die Regierung ganz auf Export. Die Sonderzonen sind ihr wichtigstes Projekt, um die heimische Wirtschaft am Weltmarkt zu etablieren. Sie argumentiert, dass sich die drückende Arbeitslosigkeit in Indien nur durch eine forcierte Industrialisierung und anhaltend hohes Wirtschaftswachstum beseitigen lässt. Aber noch ist unklar, wie viele Arbeitsplätze in den Sonderzonen neu entstehen und auch, wie viele davon den Beschäftigen mehr als nur Armutslöhne verschaffen.

Beschäftigungsloses Wachstum
In den letzten beiden Jahren lag das indische Wirtschaftswachstum über acht Prozent; die Investitionsrate ist seit 2002 von 20 auf fast 35 Prozent gestiegen. Viele Inder sind, nach Jahrhunderte langer Abhängigkeit vom Westen, stolz auf die wirtschaftlichen Erfolge ihres Landes. Oft ist die Rede von der "neuen indischen Mittelschicht". Sie ist die Gewinnerin von Öffnung und Modernisierung seit 1991. Diese konsumorientierten und konsumkräftigen jungen Inder stammen fast ausnahmslos aus der alten Mittelschicht, haben studiert und sind heute in der computergestützten Outsourcing-Industrie beschäftigt.

In der indischen IT-Industrie arbeiten 1,1 bis 1,3 Millionen Menschen, weitere 350.000 Menschen im Business Process Outsourcing, also für meist westliche Firmen, die ihre Verwaltungsvorgänge ausgelagert haben. Insgesamt beschäftigen beide Sektoren also etwa 1,6 Millionen Menschen. Die Bevölkerungszahl beträgt aber mehr als eine Milliarde.

Nüchtern beschreibt die Soziologin Supriya Roy Chowdhury vom staatlichen Institute for Social and Economic Change die Entwicklung des Arbeitsmarktes: "Die Landwirtschaft trägt heute weniger zu der Wirtschaft bei als früher, aber es gab keinen entsprechenden Rückgang bei der Zahl der Menschen, die von der Landwirtschaft leben. Das zeigt, dass die Industrialisierung nicht in der Lage war, für die Menschen aus dem Agrarsektor Arbeit zu schaffen. Die Industrie ist gewachsen, aber nicht die arbeitsintensive verarbeitende Industrie, wo Jobs entstehen könnten, sondern in Bereichen wie der Informationstechnologie oder der Geschäftstechnologie."

Bei anhaltendem Bevölkerungswachstum entstehen nicht genügend neue Stellen. Manche Schätzungen gehen sogar davon aus, dass die Arbeitslosigkeit im Jahr 2020 30 Prozent betragen könnte. Das wären mehr als 200 Millionen Menschen, überwiegend zwischen 15 und 30 Jahre alt.

Rücksichtslose Modernisierung
Als das indische Fernsehen im März aus Westbengalen berichtete, waren die Zuschauer schockiert. Den Bewohnern des Dorfes Nandigram waren Enteignungen für eine Sonderwirtschaftszone angekündigt worden. Eine indonesische Firma wollte dort eine Chemiefabrik errichten. Daraufhin riegelten die Dorfbewohner wochenlang das Gebiet von der Außenwelt ab. Als das Dorf dann von der Polizei regelrecht zurückerobert wurde, wurden 14 Einwohner erschossen und über 50 verletzt. Und nicht nur in Westbengalen halten die Proteste an.

Die Debatte über die Zonen zeigt, wie tief die indische Gesellschaft gespalten ist. Die SEZ sind das beste Beispiel für die anhaltende wirtschaftliche Liberalisierung des Landes, und während die städtischen Mittelschichten den Weg der Öffnung zum Weltmarkt weitergehen wollen, gilt sie der Landbevölkerung und der organisierten Arbeiterschaft als Bedrohung. Noch immer leben zwei Drittel der Inder auf dem Land und noch immer müssen 35 Prozent mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen. Mit dem Wohlstand mancher ist auch die Ungleichheit gewachsen - zwischen Stadt und Land, zwischen den verschiedenen Regionen des Landes, zwischen Gewinnern und Verlierern der Modernisierung.

Hör-Tipp
Saldo, jeden Freitag, 9:45 Uhr

Links
Wikipedia - Sonderwirtschaftszone
Deutschlandradio - Sonderwirtschaftszonen in Indien
BBC - Sonderwirtschaftszonen in Indien
Tourism Watch - Sonderwirtschaftszonen
Indisches Wirtschaftsministerium