Fluchtwege und Sackgassen
Festival der Regionen
Die großen Kunst-Leistungsschauen in Venedig und Kassel laufen. Kunst ist mittlerweile ein zumindest überregionales, wenn nicht globalisiertes Unterfangen. Das oberösterreichische Festival der Regionen hält noch bis zum 8. Juli 2007 dagegen.
8. April 2017, 21:58
Leiter Martin Fritz über das Festival der Regionen
"Fluchtwege und Sackgassen - Wege der Vergangenheit" ist das Thema des heurigen Festivals der Regionen in Oberösterreich, ein Kunst-Festival, das Jahr für Jahr immer mehr Aufmerksamkeit bekommt. Soziale Realitäten sollen aufgezeigt werden. Das ist seit Jahren das Ziel des Festivals der Regionen - ohne verwirrend-komplexe Kontextualisierungs-Strategien anzuwenden.
Der Begriff der "Provinz" dürfe in einer modernen, globalisierten Welt nicht mehr bedient werden, sagt der Leiter des Festivals, Martin Fritz. Die Kommunikation mit und die Beteiligung des lokalen oder regionalen Publikums sei für alle Kunst-Events, also auch für das Festival der Regionen, die Voraussetzung für eine kontemporäre Auseinandersetzung mit der Gegenwart. "Fluchtwege und Sackgassen", das Thema des heurigen Festivals, sei also quasi eine Umschreibung der mittlerweile inflationär, aber nicht deshalb minder wichtigen Migrationsthematik.
Um diese Thematik auch in Oberösterreich an passender Stelle zu verorten, hat man sich dieses Mal den Bezirk Kirchdorf im Voralpenland ausgesucht und alle Projekte an der A9, der lange Zeit umstrittenen Pyhrnautobahn, angesiedelt, eine Strecke, die auch als Gastarbeiter-Route seit den 1970er Jahren bekannt ist. Damals war hier nur die B 138. Seit Jahrhunderten - eigentlich seit den Römern - ist diese Gegend Transitraum, bis hinunter ins Donautal.
Rund um die Autobahnraststätte St. Pankraz
Und damit sind wir bereits am Austragungsort eines der Festival-Projekte mit dem Titel "EXIT St. Pankraz", das sich mit der Betriebs-Entwicklung und den Akteuren der Autobahnraststätte Pankraz beschäftigt. Im Zentrum dieser sozialen Untersuchung als begehbares Diagramm, das Michael Hieslmayer, Architekt und Künstler mit der in Wien lebenden und aus Slowenien stammenden Künstlerin Marusa Sagadin und mit dem bekannten Wiener Künstler Michael Zinganel realisiert, steht die Geschichte dieser Raststätte, ihrer Besucher und Besucherinnen, ihrer Dienstleister und ihrer Betreiberfamilie Kerbl. Denn besonders an einem Ort wie diesem verknüpft sich die lokale Verkehrs-Entwicklung der letzten Jahrzehnte exemplarisch mit den sozialen und ökonomischen Veränderungen in Europa.
"National-Park-Rast St. Pankraz, Tanken sie Energie", steht da in großen Lettern mehrmals an der Raststätte zu lesen, denn die Rast liegt auch noch gleich am Ausgangspunkt des Nationalparks Kalkalpen. Überhaupt mutet das ziemlich große Areal, wären da nicht LKWs und Tank-Zapfsäulen, der alpinen Bilder wegen, fast idyllisch an.
Reisende aus allen Richtungen
Ergänzt wird der - sagen wir - postmoderne Bau mit riesigen Panoramafenstern und verschiedenen stilistischen Versatzstücken aus den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts mit einem Versammlungsraum; einer Bar für vorwiegend Einheimische, einer Kinder-Spiel-Ecke, einem Internet-Café, einem fast sterilen, stillen Ort zum Entleeren samt Duschen, mit Stehklos für orientalische Reisende. "Tankstellen-Urbanismus" nennt das der Theorie-Beschlagene.
Hier kreuzen sich die Wege vieler inländischer und ausländischer Passierender, Pendelnder, Zugezogener, Einheimischer. Und die kommen in Pankraz immerhin aus fast einem Dutzend Ländern: Die LKW-Fahrerin aus der Steiermark, die WC-Betreuerinnen aus Kasachstan, der Berufsfahrer aus Holland, die ostdeutsche SB-Verkäuferin, der Koch aus Tschechien, die Prostituierten aus der Ostslowakei oder aus Russland, die Gastarbeiterfamilie aus Istanbul, die Kellnerin aus Bosnien, die Stammtischler aus der Gegend.
Aus einem Würstlstand gewachsen
Die Raststätte scheint zu einem transnationalen Kommunikationszentrum geworden zu sein. Zu einem sozialen Zentrum in einer von Arbeitsmigration und Schrumpfung bedrohten Region. Viele Flüchtlinge aus allen Himmelsrichtungen fanden in ihrer Heimat keine Jobs, die Raststätte wurde für sie als vermeintlich sicherer Arbeitgeber zur Sehnsuchts-Destination. Ja gar zu einer Art Heimat.
In der Raststation selbst hat sich der Betreiber höchstpersönlich eingefunden, um bei den rund 60 Angestellten - die im Schichtbetrieb arbeiten - nach dem Rechten zu sehen. Willibald Kerbl spricht von Freizeit-Zentrum, Tourismus-Belange, Versorgerstatus und Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Aus einer einfachen Würstlbude an der Bundesstraße - in Gehweite zur Raststation und mittlerweile als "King Bar" verpachtetes Bordell - hat er mit seiner Familie rund um die Station, ja in der gesamten Region, ein wahres Unternehmens-Imperium aufgebaut - mit einem Wirtshaus, dem Stammunternehmen und angeschlossenem "Wilderer-Museum", einem Hotel in Windischgarsten und einer Biogasanlage, die die Speisereste der Raststation verarbeitet.
Sich positiv und günstig zu verkaufen ist eine der Stärken des Willibald Kerbl. Zu welchen Bedingungen das geschieht ist Nebensache. Vor nicht langer Zeit kam das Familien-Unternehmen wegen seines extremen Expansions-Dranges in formidable wirtschaftliche Schwierigkeiten, aber auch dieses Problem löste man auf kunstvolle Weise mit Strategien, die hier zu erklären zu ausführlich erscheinen.
Mehr zum Festival der Regionen in oe1.ORF.at
Veranstaltungs-Tipp
Festival der Regionen, bis 8. Juli 2007
Am 8. Juli 2007 können Sie noch eine Führung mit den Künstlern über das Gelände der Autobahnraststätte St. Pankraz mitmachen.
Link
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