Psychoanalyse als Ermittlungswerkzeug

Morddeutung

Ferenczi, Freud und Jung reisen 1909 gemeinsam nach Amerika. Diese historische Tatsache bildet die Rahmenhandlung von Jed Rubenfelds, ansonsten fiktiven, Roman. Dort wird, mit Freuds Hilfe, auf spannende und plausible Weise ein Mordfall aufgeklärt.

New York City, August 1909. Im Hafen von Hoboken legt der Passagierdampfer "George Washington" an. An Bord ein Herrentrio, das Geschichte schreiben wird: Sandor Ferenczi, C. G. Jung und Sigmund Freud. Letzterer hat, bekanntermaßen, die Psychoanalyse begründet, der Ungar Ferenczi hat sie eigenständig weiter entwickelt, und C. G. Jung, der spätere Begründer der analytischen Psychologie, war zum damaligen Zeitpunkt noch ein enger Vertrauter Sigmund Freuds.

Die Amerikareise, die die drei Herren da angetreten hatten, ist historisch verbürgt: Die Einladung hatte Freud gegolten, der dann an der Clark University in Worcester, Massachusetts, eine Vorlesungsreihe über Psychoanalyse hielt. In der Geschichtsschreibung der Psychoanalyse markiert sie Sigmund Freuds internationalen Durchbruch, aber auch den Beginn einer Entfremdung zwischen Freud und dessen designierten "Kronprinzen" Jung.

Wenig Begeisterung für Amerika

Freud selbst war von den USA und insbesondere von New York nicht sehr angetan: "Ich bin sehr froh, wieder weg zu sein, und noch mehr darüber, dass ich nicht dort leben muss", schrieb er seiner Schwester nach dem Ende des mehrwöchigen Aufenthalts in der "Neuen Welt".

Was den Chefanalytiker dort so sehr verärgert hat, das versucht der US-amerikanische Autor Jed Rubenfeld herauszufinden, wobei es eher ums Erfinden als ums Finden geht. Rubenfeld, eigentlich Jusprofessor und Experte für Verfassungsrecht an der Yale Universität, hat damit jedenfalls einen internationalen Bestseller geschrieben. Und das mehr als 500 Seiten starke Buch, das im Original "The interpretation of murder" heißt – bei uns hat es den griffigeren Titel "Morddeutung" – steht völlig zu Recht in den Bestsellerlisten.

Überraschendes aber plausibles Ende

Der Plot, also die Handlung dieses Kriminalromans, läuft so ab: Während Freuds New-York-Aufenthalt wird eine junge Frau aus den "besseren Kreisen" gefoltert und ermordet. Kurz darauf gibt es ein zweites Opfer, das den Anschlag zwar überlebt, aber unter Gedächtnis- und Stimmverlust leidet. Wie der Zufall so spielt - in diesem Fall sei er erlaubt! - ist einer von Freuds Gastgebern, ein junger Nervenarzt und angehender Psychoanalytiker, mit dem Bürgermeister von New York befreundet. Der wiederum macht sich angesichts eines etwaigen Serienmörders, der noch dazu in der gehobenen Gesellschaft wütet, Sorgen über den Ruf der Stadt und - damit verbunden - um seinen Job.

Freud wird also beigezogen, der übergibt aber die Patientin an den jungen Arzt und eigentlichen Helden des Romans. Das Gedächtnis und die Stimme kehren wieder, aber auch der Mörder kehrt zurück. Die endgültige Lösung des Falls ist überraschend, aber plausibel. Und das ist schon viel für so manchen Krimi heutzutage.

Fein gezeichnete Figuren

"Morddeutung" ist das, was man einen historischen Kriminalroman nennt. Ein bei Feinschmeckern eher verpöntes Subgenre, weil es meist dickleibige und öde Konvolute hervorbringt. Ersteres, die Dickleibigkeit, trifft - wie gesagt - auch im vorliegenden Fall zu, Zweiteres stimmt hier überhaupt nicht. Dass sich die Lektüre durchwegs spannend, aufschlussreich und unterhaltsam gestaltet, hat damit zu tun, dass Jed Rubenfeld mehrere Erzählstränge geschickt miteinander verknüpft, die Psychologie seiner Figuren sehr fein zeichnet - wobei C. G. Jung als höchst dubiose Gestalt daherkommt, das nur nebenbei - und darüber hinaus noch eine sehr eindrucksvolle Topografie und Soziografie der US-amerikanischen Metropole unmittelbar nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorlegt.

Vom Gewicht her mag es zwar bequemere Bücher fürs Strandbad geben, ein Lesegenuss aber ist dieser historisch-psychoanalytische Großstadtthriller allemal - auch wenn das ursprüngliche Rätsel, was denn Sigmund Freud in den USA so sehr verstimmt hat, nicht wirklich gelöst wird. Vielleicht waren es doch nur die Verdauungs- und Prostatabeschwerden des damals immerhin schon 53-Jährigen.

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Buch-Tipp
Jed Rubenfeld, "Morddeutung", aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Friedrich Mader, Heyne Verlag, 2007, ISBN 978-3453265448

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Heyne Verlag