Zwei Moralisten im Vergleich

Die Charaktere / Chamfort

Nicolas de Chamfort und Jean de la Bruyère: Was die beiden verbindet ist, dass sie beide zu den Moralisten gezählt werden. Jetzt ist Bruyères Hauptwerk "Charaktere" neu aufgelegt worden und die Biografie Chamforts, verfasst von Claude Arnaud, erschienen.

Man ereifere sich nicht gegen die Menschen, wenn man sieht, wie hart, undankbar, ungerecht, stolz, selbstsüchtig und vergesslich sie sind; so sind sie geschaffen; es ist ihre Natur (...).

Dieser Gedanke stammt von Jean de la Bruyère. Beinahe genau 100 Jahre später schrieb ein anderer französischer Autor Folgendes nieder:

Herrn R., einen begabten und geistvollen Menschen, fragte ich einmal, warum er denn bei der Revolution von 1789 gar nicht hervorgetreten sei. "Seit dreißig Jahren", erwiderte er mir, "studiere ich die Menschen, und ich fand sie einzeln und jeden für sich so böse, dass ich nichts von ihnen zu hoffen wagte, wo sie zusammen und in Massen auftreten."

Dieser zweite Misanthrop heißt mit Namen Nicolas de Chamfort. Was ihn mit Jean de la Bruyère eint, ist Folgendes: Beide Autoren werden zu den "Moralisten" gezählt - wie aus den eben zitierten Gedanken unschwer zu erkennen ist.

Am schönen Schein kratzen

Der Volksmund sagt: Moralisten sind Menschen, die sich dort kratzen, wo es die anderen juckt. Das stimmt. Moralisten kratzen beharrlich an der Oberfläche, am schönen Schein des menschlichen Edelmuts. Jetzt könnte man meinen, dass die Gedanken, Reflexionen und Maximen, die die Moralisten in dicken Büchern niederschreiben, doch kein Mensch lesen will. Aber das Gegenteil ist der Fall! Seit Jahrhunderten werden sie immer wieder neu aufgelegt, neu übersetzt und gelesen. Und das mit Genuss, denn man denkt insgeheim: So böse, so verworfen, so ein schändliches Wesen haben die anderen, aber doch nicht ich!

Unsere Neigung und Bereitwilligkeit, andere zu verspotten, zu missbilligen und zu verachten, ist ungeheuerlich; aber nicht weniger der Zorn, den wir gegen die empfinden, die uns verspotten, missbilligen und verachten.

Am Hofe

Jean de la Bruyère wurde 1645 in Versailles geboren, aber den Weg zum französischen Hochadel ermöglichte ihm erst eine Erbschaft, mit der er sich Ämter und Adelstitel erkaufte. Als Randfigur und Höfling ohne große Aufstiegschancen beobachtete er die Eitelkeiten der hohen wie auch der niederen Gesellschaft.

Nicolas de Chamfort, eigentlich Sébastien-Roch Nicolas, der 1741 zur Welt kam, entstammte einer illegitimen Beziehung zwischen einer Landadeligen und einem Dompfarrer. Seinen Adelstitel gab er sich selbst mittels gefälschter Geburtsurkunde. Chamfort, der Bastard, arbeitete besessen an seinem gesellschaftlichen Aufstieg. Wie de la Bruyère blieb er eine Randfigur der Hofgesellschaft.

Idealisten und Utopisten

Die Menschen bilden zusammen ein und dieselbe Familie: Es gibt nur das Mehr oder Weniger in den Verwandtschaftsgraden.

Dieser Gedankengang stammt nicht von Chamfort zu Zeiten der Französischen Revolution, sondern von Jean de la Bruyère, dem Hofmann. Dies zeigt, dass Moralisten ein Gespür für den Soll-Zustand der menschlichen Gemeinschaft haben. Sie sind auch Idealisten und Utopisten, die zu wissen meinen, was unter Menschen gelten sollte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

"Die Charaktere" Jean de la Bruyères, die nun im Insel Verlag nach langer Zeit neu aufgelegt wurden, sind ein Musterbeispiel dieser gedanklichen Bewegung. In 17 Abteilungen wie "Von den Glücksgütern", "Von der Stadt", "Vom Hof" oder ganz allgemein "Vom Menschen" ist der Autor in unzähligen kürzeren und längeren Reflexionen der Natur des Menschen in all seinen Spielarten auf der Spur. Das ist noch heute spannend zu lesen - und auch aufschlussreich. Man fragt sich: Was haben wir eigentlich dazugelernt?

Engagierte Biografie

Eine Biografie zu Nicolas de Chamfort liefert der französische Schriftsteller Claude Arnaud. Diese ist überwältigend: Da schreibt einer mit der ganzen Verve eines engagierten Autors, er tadelt, lobt Chamforts Denken und Tun, er verwirft Teile seines Charakters und versucht gleichzeitig, diese schillernde Figur dem Leser verständlich zu machen. Kurz, Arnaud selbst schreibt wie ein Moralist, der anhand Chamforts die Natur des Menschen bestimmt. Zudem ist Arnauds Darstellung weiträumig eingebettet in die französische Geschichte Ludwigs des XVI. bis in die vornapoleonische Zeit. Wer diese Biografie liest, der weiß auch bestens über diese so ereignisreiche Epoche Bescheid.

Die Natur hat mir nicht gesagt: "Sei nicht arm!" Noch weniger: "Sei reich!" Aber sie ruft mir zu: "Sei unabhängig!"

Diese Maxime stammt von Nicolas de Chamfort, dem Bastard. Dies hätte aber auch Jean de la Bruyère, der Hofmann, schreiben können. Moralisten kratzen eben nicht nur am schönen Schein und an der Scheinheiligkeit des menschlichen Charakters, sondern sie kitzeln ihn auch, damit er sieht, was er sein könnte - wenn er nur wollte.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipps
Jean de la Bruyère, "Die Charaktere", aus dem Französischen übersetzt von Otto Flake, Insel Verlag, ISBN 9783458173397

Claude Arnaud, "Chamfort. Die Frauen, der Adel und die Revolution", aus dem Franzosischen übersetzt von Ulrich Kunzmann Matthes & Seitz Verlag, ISBN 9783882218756

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Claude Arnaud