Wenn der Zufall Regie führt

Die Entstehung von Neuem

Das Europäische Forum Alpbach widmet sich heuer dem Thema "Emergenz", also dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren, aus denen etwas Neues, nicht Vorhersagbares entsteht. Die Themenpalette reicht von Evolutionsbiologie bis Politikwissenschaft.

Wie kommt das Neue in die Welt? Wer sich in der Wissenschaftsgeschichte umsieht, bemerkt bald, dass viele Entdeckungen und Erfindungen ganz unspektakulär zustande kamen und erst viel später praktisch genutzt wurden.

Michael Faraday, der Schöpfer der modernen Elektrizitätslehre, wurde einmal nach dem Nutzen einer neuen Entdeckung gefragt. Er stellte darauf die Gegenfrage: "Welchen Nutzen hat ein neugeborenes Kind?"

Spontane Entwicklungen

Wer von Wissenschaft und Forschung nur die kurzfristig realisierbare Umsetzung neuer Erkenntnisse in technische Innovationen erwartet, greift zu kurz. Vom modernen Tunnelbau bis hin zur Elektronik und Datenverarbeitung sind zahlreiche Verfahren aus Großprojekten der Grundlagenforschung entstanden. Wie sollte man heute schon sagen, was die Leittechnologie des 22. Jahrhunderts sein wird? Wichtiger wird es sein, die Umstände zu erforschen, unter denen sich Neues entwickeln kann, und ein Klima zu schaffen, das diese Entwicklung begünstigt.

Das "Europäische Forum Alpbach" greift in diesem Jahr diese Herausforderung auf. Nicht nur Innovationen, sondern auch Entwicklungen, die ohne Zutun des Menschen spontan entstehen, werden unter dem Generaltitel "Emergence - Die Entstehung von Neuem" behandelt. Die breite Themenpalette reicht von der Evolutionsbiologie bis zur ästhetischen Theorie und Politikwissenschaft. Wie hat sich kooperatives Verhalten entwickelt? Was ermöglicht die Entstehung neuer Märkte und Machtzentren? Interdisziplinäre Betrachtungen sollen neue Sichtweisen ermöglichen. Technologische Umbrüche werfen auch Fragen nach Risiko und Sicherheit auf. Unter dem Begriff "risk governance" werden Methoden zu ihrer vorausschauenden Bewältigung diskutiert. Mit "Emergenz" drückt die Wissenschaftstheorie aus, dass beim Zusammenwirken mehrerer Faktoren neue, nicht voraussagbare Qualitäten entstehen.

Kochen wissenschaftlich betrachtet

Ein unterhaltsames Beispiel für die Entstehung von Neuem ist die Kochkunst. Auch ihre wissenschaftliche Betrachtung hat in diesem Jahr Platz bei den von der Ö1 Wissenschaftsredaktion mitveranstalteten "Alpbacher Technologiegesprächen". Der am Collège de France in Paris tätige "Kochwissenschafter" Hervé This-Benckhard versucht den Reaktionen im Kochtopf auf die Spur zu kommen. Molekulare Gastronomie lautet der dafür vom französischen Erfolgsautor geprägte Begriff.

Wenn geschnittene Pilze schwarz werden, Vollreis durch Kochen weich wird oder aromatische Verbindungen auf der Oberfläche eines Bratens entstehen, handelt es sich um chemische Reaktionen - die Kochwissenschaft hat es aber nicht nur mit einer einzigen, sondern mit unzähligen davon zu tun.

Wie einmal trefflich bemerkt wurde, wissen wir wahrscheinlich besser über die Temperatur im Zentrum der Sonne Bescheid als über die Temperatur im Inneren eines Soufflés. Dennoch geben die Kochtöpfe im Licht der molekular-gastronomischen Forschungen immer mehr ihrer Geheimnisse preis. Das führt zu neuen Geschmackskombinationen, kreativen Zubereitungsarten und verspricht bei den Technologiegesprächen kulinarische Diskussionen in einem Arbeitskreis über die "Fünf Sinne".

Digitale Parallelwelt "Second Life"

Das Internet ist ein weiteres Beispiel für die Entstehung von Neuem. Durch Vernetzung und Interaktivität entstehen unvorhersagbare Entwicklungen. Wer hätte gedacht, dass eine virtuelle Welt unter dem Namen "Second Life" in kurzer Zeit über sieben Millionen registrierte Nutzerinnen und Nutzer anziehen würde?

Ob als Versuchsstation für Produktentwicklung und Public Relations, neuer Marktplatz, Vertretung von Staaten und Wahlkampfplattform für Parteien, Showroom und Konzertbühne, fantastische Spiel- und Erlebniswelt, Kontaktbörse und Community für neue, von Avataren verkörperte Persönlichkeiten: Die von der IT-Firma "Linden Lab" programmierte dreidimensionale Onlinewelt "Second Life" scheint Firmen, Institutionen und Individuen Entwicklungschancen zu bieten, die sich leichter als im realen Leben umsetzen lassen.

Ist damit aber bereits ein neues Modell der Innovation angelegt? Wird eine neue Form der Ökonomie darauf aufbauen? Ist die digitale Parallelwelt von "Second Life" eine Vorschau auf das World Wide Web der Zukunft oder nur ein vorübergehender Hype? Diese Fragen werden bei einem Arbeitskreis der Technologiegespräche für spannende Debatten sorgen.

Ö1 Kinderuni Alpbach

Das "Neue" in Wissenschaft und Forschung beginnt mit unkonventionellem Denken und der ständigen Frage nach dem "Warum". Diese unbefangene Freude an der Wissenschaft versucht die im heurigen Jahr erstmals stattfindende "Ö1 Kinderuni Alpbach" an den "Nachwuchs" zu vermitteln. Sie folgt damit einer pädagogischen Anregung des Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg, die für alle Generationen gilt: "Es wäre vielleicht besser, wenn man die Menschen lehrte, wie sie denken sollten, und nicht ewighin, was sie denken sollen."

Mehr zum Europäischen Forum Alpbach in science.ORF.at

Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 27. August 2007, 19:05 Uhr

Veranstaltungs-Tipp
Europäisches Forum Alpbach - Technologiegespräche, 23. bis 25. August 2007, Congress Centrum Alpbach

Link
Europäisches Forum Alpbach