Das Leben des Thomas Harlan

Wandersplitter

Thomas Harlan ist Erzähler, Dramatiker, Filmemacher, Ex-Revolutionär und Globetrotter. Seit sechs Jahren lebt der schwer Lungenkranke in einem kleinen Zimmer im Klinikum Berchtesgadener Land - Schauplatz des Dokumentarfilms "Wandersplitter".

Ein Mann logiert in einem Hotel in Moskau. Er hat es noch nie ohne Begleitung verlassen. Jetzt macht er sich davon. Er nimmt nicht den Aufzug, er benutzt die Wirtschaftstreppe, durchquert die Küche, passiert den Hinterhof und tritt auf die Straße. Er steigt in einen Autobus, den erstbesten, der vorbeikommt. Es schneit. Es ist ein Dezembertag im Jahr 1953. Als Gast des Allunionsverbands sowjetischer Architekten, Teilnehmer an einem Seminar für Städteplanung, glaubt der Mann "eine übermäßige Liebe für das Sowjetreich" zu empfinden. Jetzt nimmt er Moskau aus veränderter Perspektive wahr, betrachtet die Fahrgäste und sinniert über die Masse und den einzelnen.

"Er sagte sich: Freiheit ist ein Ausrutscher." Er spürt, wie eine Hand seine Schulter berührt, wie ein Arm sich bei ihm unterhakt. Jemand zieht ihn aus dem Bus - ein alter Mann mit dunklem Mantel und Pelzkappe. Schweigend gehen die beiden durch den Schnee, gelangen zu einem Wohnblock und betreten eine Wohnung im siebten Stock. "Er war dem Unheil in die Falle gegangen", glaubt der Mann, er wartet auf seine Festnahme. Der Alte schleift unterdessen einen großen Karton ins Zimmer und öffnet ihn. Er enthält alte Ausgaben des "Berliner Tagblatts", den kompletten Jahrgang 1929, offenbar Zeugnisse eines vergangenen Berlin-Aufenthalts. Der Gast in der Wohnung des Russen ist Berliner des Jahrgangs 1929. "Es gibt Ereignisse", glaubt er, "die sich darin erschöpfen, bedeutend zu sein; sie bedeuten alles; sie verschlagen dir die Sprache; sie treten an deine Stelle."

Diese - autobiografische - Geschichte (auch "Nichtgeschichte" genannt ), ein kafkaeskes Stück Literatur, erzählt Thomas Harlan. Er erzählt sie gleich zweimal: in dem Erzählband "Die Stadt Ys", der demnächst im Eichborn Verlag erscheint, und in Christoph Hübners Film "Wandersplitter", in dem Thomas Harlan über Thomas Harlan spricht, über die Obsessionen seines Lebens.

Wirkung und Nebenwirkung

Ich glaube, dass im Gegensatz zu vielen Leben von vernünftigen Menschen, und ich gehöre auch meiner Meinung nach zu einem relativ vernünftigen Menschen, alles, was bei mir wesentlich geworden ist, sozusagen als Nebenwirkung sich ergeben hat von etwas anderem. Nie entsprach beispielsweise die Übernahme von Pflichten in der deutschen Justiz, die Verfolgung von Kriegsverbrechen, irgendeinem Lebensziel oder irgendeiner Lust. Thomas Harlan ist Erzähler, Romancier, Drehbuchautor, Dramatiker, Filmemacher, Ex-Revolutionär - und Globetrotter, der nicht mehr reisen kann. Seit sechs Jahren lebt der schwer Lungenkranke in einem kleinen Zimmer im Klinikum Berchtesgadener Land. Dort habe ich ihn besucht - und einen erstaunlich klar formulierenden, gedankenscharfen und unsentimentalen 78-Jährigen erlebt. Dort "spielt" auch Christoph Hübners Film, ein Film, der nichts weiter tut, als Thomas Harlan zuzuhören. Was man Leben nennt, besteht bei sehr vielen Leuten aus sehr wichtigen Punkten, Zeiträumen, Stationen - und bei mir eben nicht. Meine Lebensvorstellung ist immer auf eine wundersame und immer von mir gut empfangene Weise gestört worden.

Im Spiegel der Zeit
Thomas Harlans Werk bestimmen die Störungen seines Lebens, sein Leben die Katastrophen der Geschichte. Er ist der Sohn eines der berühmtesten Regisseure des Dritten Reichs, dessen berüchtigtsten Film 20 Millionen Deutsche sahen, als Pflichtprogramm der Nazipropaganda: "Jud Süß".

Thomas Harlan sagt über seine Herkunft: "Ganz gewiss ist es so, dass als ich gemerkt habe, in welchen Beziehungen zur Verantwortung meine Eltern gelebt haben, wie mein Vater mit dem zurande gekommen ist, was er getan hat während des Krieges, als ich das merkte, wusste ich, dass es eine Katastrophe war, was mir passiert war. Ich bin geboren worden in einer katastrophalen Familie. Und mit dieser Katastrophe musste ich nun leben. Und dadurch ist etwas entstanden, was nie anders entstanden wäre."

Nach dem Krieg floh der Sohn von Veit Harlan das schnell entnazifizierte Deutschland. Er zog nach Paris, befreundete sich mit Michel Tournier, Gilles Deleuze und Pierre Boulez, lernte Klaus Kinski kennen, reiste mit ihm nach Israel, fuhr in die Sowjetunion und schrieb Theaterstücke zum Thema "jüdischer Widerstand".

1959 übersiedelte er nach Polen, um dort in den Archiven die Kriegsverbrechen zu recherchieren - die Folge waren über 2000 Strafanträge gegen ehemalige Nazis und Material für den Auschwitz-Prozess, aber auch ein Verfahren gegen Harlan wegen Verrats von Staatsgeheimnissen durch die polnische und eines wegen Landesverrats durch die westdeutsche Justiz. Mitte der 60er Jahre brach er seine Recherchen unvermittelt ab.

"Als es darum ging, plötzlich der Fachmann der Justiz zu werden, der vor Gericht geladen wird und beeidigen soll als Zeuge der Anklage, war mir das Ganze zuwider. Und ich merkte, dass ich das nicht aushalten würde, und ich habe das Ganze von einem Tag zum anderen abgewimmelt, weggesteckt, aufgehört... Von einem Tag zum anderen das weggelegt wie etwas Feindseliges, weil ich verstanden habe, dass die Zahl der Schuldigen, der Verantwortlichen so groß wird, dass es ganz schwer sein würde, von Unschuldigen zu sprechen... Und da habe ich angefangen zu streiken. Ich konnte es nicht weiter machen."

Auf Polen folgten Stationen in Italien und Frankreich, folgten Reisen in die USA und nach Lateinamerika. In Chile schloss sich Harlan der chilenischen Widerstandbewegung an, in Italien der linksradikalen Gruppe "Lotta Continua", in Portugal drehte er einen Film über die Nelkenrevolution, "Torre Bela". "Wundkanal" wiederum war das Porträt eines ehemaligen Nazis und Kriegsverbrechers - ein Skandalfilm in Venedig und auf der Berlinale. Erst spät gelangte Harlan wieder zur Literatur zurück. Im Jahr 2000 erschien sein erster Roman, "Rosa", der in Polen spielt und in die Nazizeit zurückführt.

Überbordende Erzählungen

"Wie komme ich überhaupt zum Erzählen? Ich wüsste von den Erzählern, die ich kenne, niemanden, der so blind ist, wie ich es bin. Und so wenig intelligent. Ich simuliere Intelligenz, wenn ich schreibe. Es ist einfach ein im Bett der Geschichte unendlich weit entwickelter Instinkt. Und dieser tierische Instinkt führt mich im Rausch der Worte zu bestimmten Vorgängen, die in dem Sprachgewirr, das zunächst als Gewirr auftaucht, so ordentlich und sich so ordnend versteckt sind, dass daraus ein Buch entsteht."

Einen "Dschungel aus Fiktion, Wahrheit und wirrem Wahn", ein Buch, dessen Lektüre "oft eine Qual, ein masochistisches Unternehmen" sei, eine "fast unlesbare Aneinanderreihung von Schrecken, Rätseln, Klagen und Enthüllungen" hat man Harlans im vergangenen Herbst erschienen 500-Seiten-Roman "Heldenfriedhof" genannt - und zugleich das Werk gerühmt als "gewaltiges Geschichtspanorama", als "großen und unerbittlichen Roman".

Er beginnt mit dem kollektiven Selbstmord ehemaliger Nazis auf dem Soldatenfriedhof bei Triest, die sich als Mitglieder eines Kommandos entpuppen, das für die Organisation der polnischen Vernichtungslager verantwortlich war und später für das in San Sabba bei Triest; er beleuchet ihre Machenschaften und schildert die Umtriebe eines gewissen Enrico Cosulich, der auf der Suche nach den Umständen der Ermordung seiner Mutter Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringt - ein geistiger Bruder des Autors gewissermaßen. Er kann nicht stillsitzen. Er kann nicht die Sachen auf sich beruhen lassen, er wühlt immer weiter, aufgewühlt, wie er selbst ist. Und das ist mir sehr ähnlich. Dadurch wird nicht jemand zu einem Charakter. Aber er hat eine Eigenschaft, die ich sehr gut bei mir wieder erkenne.

Thomas Harlans Werk ist schwierig, vielstimmig und unversöhnlich. Auch der jüngste Band, "Die Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben", bietet keine leichte Lektüre: komplex miteinander verwobene Geschichten, die von seltsamen Dingen aus der Welt des ehemaligen Sowjetreichs und seiner Satellitenstaaten handeln, erzählt in einer Sprache, bei der das Expressive weit ausufernder Satzgebilde auf trockenen Protokollton trifft.

Das Buch zum Film
Wer sich auf Harlans Werk einlassen will, sollte nichts Kompaktes, allgemein Konsensfähiges und schnell Rekapitulierbares erwarten und sich nicht irritieren lassen, wenn sich die Grenze zwischen Fiktion und Wahrheit verwischt. Er tut sich leichter, wenn er sich in Geschichte auskennt, und vielleicht auch mit Harlans Biografie und Gedankenwelt.

In diese führen nicht nur Christoph Hübners schlichter Film ein, sondern auch der auf Interviews mit Harlan basierende, demnächst erscheinende Porträtband von Jean-Pierre Stephan mit dem Titel "Thomas Harlan. Das Gesicht deines Feindes": ein Buch, das nicht zuletzt auch Harlans Unbestechlichkeit und Formulierungskunst belegt - und auf privaten Klatsch verzichtet.

Man muss nicht alles wiederherstellen vom Leben von jemandem. Nur das, was beispielhaft brauchbar ist für die anderen. Es gibt bestimmte Dinge in meinem Leben, die können andere gebrauchen... Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, war Ingeborg Bachmann überzeugt. Bei Harlan klingt das ein bisschen anders. "Die einzige Strafe, die ich mir vorstellen kann, ist Wahrheit", sagt er, der Chronist von Ereignissen, die einem die Sprache verschlagen. Der leidenschaftlichen Suche nach dieser strafenden Wahrheit, nach Erkenntnis, Aufklärung und Aufrichtigkeit - ihr weiß sich Thomas Harlans Werk verpflichtet. Und nicht minder seine Biografie.

Links
Eichborn - Thomas Harlan
Realfiction - Wandersplitter