Die Befreiungstheologie lebt

Leben in Fülle für alle

Der Papst hat bei seinem Besuch in Brasilien heuer im Mai die "Option für die Armen" offiziell bestätigt. Das ist die eine Seite; die andere Seite ist, dass die Befreiungstheologie noch immer von der Päpstlichen Glaubenskongregation mit Kritik und Verboten bedacht wird.

Gott ist ein Gott der Heimatlosen und der Armen, und wir sind sein neues
Volk, auf dem Weg ins Gelobte Land. Damals ging Moses an der Spitze, und heute geht das Volk voran, wir, die Entfremdeten und Unterdrückten. Auf unserem Weg durch den Sertao fordern wir Land und Brot. Niemand wird uns mehr zum Schweigen bringen.


Das ist ein Wallfahrtslied, kein politisches Lied - auch wenn sich der Text für manche Ohren so anhören mag. 1987 pilgerte erstmals eine kleine Gruppe von rund 150 landlosen Bauern, begleitet von Befreiungstheologen wie Leonardo Boff oder dem Kardinal von Recife, Dom Helder Camara, in den kleinen Ort Bom Jesus de Lapa im Nordosten Brasiliens.

Damals mussten sich die Landlosen gegen die Militärdiktatur zur Wehr setzen; heute sind es multinationale Agrarkonzerne, die ihre Existenz bedrohen - erst vor kurzem sind in der brasilianischen Provinz Paraná zwei Männer, die sich gegen das Vorgehen einer großen Schweizer Saatgutfirma zur Wehr setzten, erschossen worden.

Die CPT, die katholische Landarbeiterpastoral der brasilianischen Bischofskonferenz organisiert immer noch wie vor dreißig Jahren die Wallfahrt nach Bom Jesus de Lapa, auch wenn die Bewegung der Landlosen, die durch die CPT initiiert wurde, heute eine eigenständige und einflussreiche politische Kraft in Brasilien ist, und die Landlosen durch die Landreformen der Regierung Lula in vielen kleinen Schritten zu ihrem Recht kommen - einem Stück Land, das sie bebauen können, von dem sie leben können, damit sie nicht in die Favelas der Megalopolen von Sao Paulo oder Rio de Janeiro abwandern müssen.

Uraltes Problem

Landlosigkeit hat in Brasilien Wurzeln, die in die Kolonialgeschichte zurückreichen. Bereits 1494, zwei Jahre nachdem Columbus mit seinen Schiffen auf einer Insel der Bahamas gelandet war, hatte Papst Alexander VI. die Neue Welt zwischen Spaniern und Portugiesen vertraglich aufgeteilt. Nach der Inbesitznahme Brasiliens vergab der portugiesische König das riesige Land an zwölf Capitanos. Jeder der zwölf bekam ungefähr 700.000 Quadratkilometer Land, das ist mehr als das Zehnfache der Fläche Österreichs als erbliches Lehen. An diesen Besitzverhältnissen hat sich bis heute nur wenig verändert.

Den ungleichen Besitzverhältnissen entsprechen ungleiche Einkommensverhältnisse. In Brasilien lebt rund die Hälfte der Bevölkerung - also rund 400 Millionen - an oder unter der Armutsgrenze.

Konkrete Bedrohung
Man hört in der letzten Zeit oft, dass die Befreiungstheologie tot sei. Doch das stimmt nicht. Denn in vielen Ländern des Südens treten Menschen mutig für Gerechtigkeit ein. Man hört nur nicht so viel von ihnen, und auch nicht davon, dass sie von den Mächtigen bedroht werden, von den Landbesitzern zum Beispiel. Dom Erwin Kräutler, Bischof der Provinz Xingu, hat das wiederholt am eigenen Leib erfahren. Wegen seines Einsatzes für die Landlosen Kleinbauern hat er immer wieder Morddrohungen erhalten - ernstzunehmende Drohungen.

Eine seiner engsten Mitarbeiterinnen, Sister Dorothy Stang, wurde erst vor zwei Jahren, im März 2005, durch sechs Schüsse aus nächster Nähe erschossen - von gedungenen Pistoleros. Sister Dorothy war zu Fuß unterwegs zu einem Treffen, als ihr die drei Pistoleros auflauerten, junge Männer, denen umgerechnet 15.000 Euros für den Mord versprochen worden waren. Der Fall sorgte auch in der Weltpresse für Schlagzeilen, hatte doch Sister Dorothy erst wenige Monate zuvor einen Preis für ihren mehr als dreißigjährigen Einsatz für die Rechte der Landlosen und Indios im Amazonasgebiet erhalten. Auftragsmorde bleiben in Brasilien sehr oft straflos; doch diesmal griff der Staat durch. Die drei Mörder von Sister Dorothy und auch der Hintermann, ein 36-jähriger Großgrundbesitzer, wurden gefasst, vor Gericht gestellt und zu 30 Jahren Haft verurteilt.

Moderne Märtyrerinnen und Märtyrer
Sister Dorothy ist eine Märtyrerin des 21. Jahrhunderts. Und sie ist nicht die einzige, die für ihren Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden mit dem Leben bezahlen musste. Von diesen Märtyrern, die jedes Jahr in Lateinamerika und anderswo ermordet werden, hört man jedoch nur sehr selten in der Presse. Bei der lateinamerikanischen Bischofssynode im Mai dieses Jahres im brasilianischen Wallfahrtsort Aparecida zum Beispiel errichteten die Basisgemeinden ein Zelt der Märtyrer - zur Erinnerung an Erzbischof Osacr Arnulfo Romero von San Salvador, der 1980 von Paramilitärs am Altar in seiner Kirche erschossen wurde.

Die Skepsis der katholischen Kirche
Die lateinamerikanische Bischofskonferenz CELAM hat Theologiegeschichte gemacht. Die erste fand 1955 in Rio de Janeiro statt. Die fünfte, die im Mai 2007 in der brasilianischen Stadt Aparecida stattfand, hat nichts wirklich Neues gebracht:

In gewisser Weise hat Papst Benedikt XVI. dort die Option für die Armen in den theologischen Sprachschatz der Kirche aufgenommen, indem er sie mit dem Leidenden Christus in Verbindung gebracht hat. Doch ein Freund der Befreiungstheologie ist der frühere Vorsitzende der Glaubenskongregation deswegen nicht geworden. Denn eine seiner Grundthesen lautet: das Christentum - und damit meint er die römisch-katholische Kirche in ihrem umfassenden Anspruch - kann es nur so geben, wie es in Europa historisch geworden ist. Und hier liegt die Befreiungstheologie quer.

Der Ausdruck Theologie der Befreiung taucht das erste Mal bei dem peruanischen Theologen Gustavo Gutierrez auf, der1972 sein bahnbrechendes Werk Teologia de la liberacion veröffentlichte, Theologie der Befreiung und konnte sich mit seiner Arbeit bereits auf mehr als hundert Jahre lateinamerikanischen Denkens berufen.

Die Befreiungstheologen wandten sich gegen die lateinamerikanischen Militärdiktaturen, die betont antimarxistisch waren und die Verfolgung und Ermordung politischer Gegner oft mit dem Argument rechtfertigten, es handle sich hier um Marxisten. Die römischen Institutionen wiederum unterstützten die Militärdiktaturen trotz deren eklatanten Menschenrechtsverletzungen. Erst vor kurzem kam es in Chile zu einem aufsehen erregenden Urteil gegen einen ehemaligen römisch-katholischen Militärseelsorger, der Folter und Mord an politischen Gegnern des Pinochet-Regimes unterstützt hatte.

Einfache Methode
Zuerst geht es darum, die Verhältnisse genau wahrzunehmen und zu sehen, was ist; als zweites geht es darum, zu urteilen, wie sich die Situation im Lichte des Evangeliums darstellt, ob es um Gerechtigkeit und Nächstenliebe geht oder nicht; und der dritte Schritt ist handeln - das heißt, sich darum zu bemühen, die Situation so zu verändern, dass sie der Botschaft Jesu, dem Evangelium der Nächstenliebe entspricht.

Was Befreiungstheologen von anderen unterscheidet ist, dass sie Sünde nicht nur als individuelle Verfehlung betrachten, von der man dann womöglich in der Beichte los gesprochen wird, sondern auch von strukturellen Sünden sprechen. Dazu gehören zum Beispiel ungerechte Handelsverträge, sowie die Verantwortung als Bürgerin und Bürger wahrzunehmen und sich politisch zu positionieren.

Hör-Tipp
Imago, Mittwoch, 26. Dezember 2007, 0:08 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at