Auf der Suche nach Geschichte
Turntable-Virtuose Philip Jeck
Philip Jeck gastiert nach 1995 heuer abermals beim musikprotokoll im steirischen herbst, um mit seinen alten Plattenspielern und seinem Assortiment historischer Platten die Wirklichkeit ganz unmittelbar und nahe an die Zuhörer heranzuholen.
8. April 2017, 21:58
Philip Jeck betrachtet jede seiner alten Schallplatten, die er meist um wenig Geld auf dem Flohmark oder in Second-Hand-Läden erstanden hat, als aktive "Mitspieler". Jede einzelne seiner Platten würde sich mit ihrem ganz speziellen unverwechselbaren Charakter in den musikalischen Entstehungsprozess einbringen, und so würde es sich auch mit seinen kleinen, alten Plattenspielern verhalten.
Die Patina des Archivs
Eine wesentliche Faszination übt auf Philip Jeck die Arbeit mit dem Archiv aus. Schallplatten, so Jeck, seien Zeitdokumente, in denen der Prozess des Vergessens zusätzlich eine direkte akustische und auch visuelle Entsprechung findet. Mit jedem abermaligen Abspielen versinkt die auf Vinyl gespeicherte Musik ein Stück weit mehr im Rauschen, bis sie schlussendlich völlig von diesem überlagert wird, sich in ihm aufgelöst zu haben scheint.
"Manchmal nach einem Konzert", beschreibt Jeck diesen Erosionsvorgang mit einem plastischen Bild, "da kann ich auf dem Tisch neben den Plattenspielern Spuren von schwarzem Staub sehen."
Spiel mit dem kollektiven Gedächtnis
Die Geschichten, die seine alten Platten erzählen würden, so Philip Jeck, seien auch immer unmittelbar verknüpft mit den individuellen Geschichten ihrer ehemaligen Besitzerinnen und Besitzer: "Diese Geschichten sind in die Musikstücke, die mittels der Platten transportiert werden, eingeschrieben. Man kann sie hören. Und ich versuche an diese Geschichten anzuknüpfen, sie herauszuarbeiten, um schließlich ein neues Musikstück zu schaffen, das wiederum seinerseits mit dem jeweiligen sozialen Umfeld in Beziehung tritt."
Denn, so Philip Jeck, jede Platte repräsentiere einen Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und so wird das Spielen von und mit Platten zu einem Spielen mit den individuellen Assoziationen der Konzertbesucherinnen und -besucher.
Vielfältige Methodik
Um die ihm als wesentlich erscheinenden Momente hervorzuheben, bearbeitet Philip Jeck seine Platten mit den diversesten Materialien und Werkzeugen. Etwa klebt er bestimmte Stellen auf der Platte ab, um so ein Loop herbeizuführen, oder er fügt dem Vinyl mit dem Stanley-Messer gezielt Kratzer zu. Gerade noch scheinbar Nebensächliches beginnt sich so plötzlich stolz im Rampenlicht zu drehen.
Eigensinnige Plattenspieler
Aber nicht nur seine alten Platten, auch seine alten Plattenspieler würden ihre jeweils ganz eigene und unverwechselbare Rolle spielen, so Philip Jeck: "Ein- und dieselbe Platte klingt auf jedem meiner Plattenspieler anders - weil eben auch meine Plattenspieler ihren eigenen Charakter mitbringen und mit diesem den musikalischen Prozess formen."
Neben den üblichen 33 und 45 Umdrehungen pro Minute rotieren die alten Plattenspieler von Philip Jeck wahlweise auch noch mit 78 beziehungsweise 16 upm.
Heimliches Kraftreservoire
Letzteres Tempo verwendet Philip Jeck ganz besonders gerne, wie er erzählt. Derart gedrosselt, beginnen die Schallplatten nämlich wie von innerer Unruhe gebeutelt ungeduldig zu vibrieren.
Ein heimliches Kraftreservoir scheint dann direkt unterhalb der musikalischen Oberfläche des in Rillen gepressten Musikstückes zu brodeln, das nur darauf wartet, sich endlich Bahn brechen zu können.
Vom Widescreen zum Widerscreen
"Es war ganz wunderbar, denn ich habe mich mehrfach in der Musik verirrt", sagte Philip Jeck nach dem Konzert beim musikprotokoll 1995, bei der er mit seiner Echtzeit-Komposition "Widescreen" zu Gast war. Auf den "Widescreen" wird dieses Jahr nun ein "Widerscreen" folgen.
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Hör-Tipp
Zeit-Ton, Mittwoch, 3. Oktober 2007, 23:05 Uhr
Veranstaltungs-Tipp
musikprotokoll, Philip Jeck, "widerscreen", Mittwoch, 3. Oktboer 2007, 21:30 Uhr, Dom im Berg
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