Ein Drittel der Heiligen Dreifaltigkeit
Das Boston Symphony Orchestra
In der Reihe der Orchesterporträts der großen US-amerikanischen Orchester, der Big Five, ist dieses Mal jenes aus Boston an der Reihe. Gemeinsam mit den Klangkörpern aus Philadelphia und New York sprechen Musikfreunde sogar von einer Heiligen Dreifaltigkeit.
8. April 2017, 21:58
Von der "Heiligen Dreifaltigkeit des amerikanischen Orchesterhimmels" sprachen manche amerikanische Musikfreunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und meinten damit die heute legendären Chefdirigenten beziehungsweise Musikdirektoren der Städte Philadelphia, Boston und New York - zumindest in jener Zeit, als diese Leopold Stokowski, Sergei Koussevitzky und Arturo Toscanini hießen.
Es ist in der Tat ein ungewöhnliches kulturgeschichtliches Zusammentreffen, dass die Wirkungsperioden dieser markanten Künstlerpersönlichkeiten als Orchesterchefs sich über lange Strecken überschneiden: Stokowski war von 1912 bis 1940 ununterbrochen in Philadelphia tätig, Koussevitzky von 1924 bis 1949 Chef in Boston, und Toscanini leitete das New York Philharmonic von 1928 bis 1936 und war von 1937 bis 1954 der wichtigste Dirigent Dirigent des NBC Symphony Orchestra.
Selbstverständlich haben diese drei Einwanderer mit Taktstock - aus England, Russland und Italien - tatsächlich das Konzertleben in den USA geprägt, beziehungsweise den Grundstein zu der hohen künstlerischen und spieltechnischen Qualität gelegt, der für die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts schon fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
Nicht nur Symphonisches in Boston
Nach Philadelphia, das von den beiden Langzeit-Musikdirektoren Stokowski und Ormandy immerhin fast 70 Jahre lang dominiert worden ist, kommt dieses Mal Boston als zweite Heimstätte der "Big Five" unter den der amerikanischen Orchestern an die Reihe: eine Stadt, puritanisch von Ruf, konservativ im Publikumsgeschmack, die eine heterogene Orchestergeschichte aufzuweisen hat.
Denn hier gab es eine weit größere Fluktuation in den Chefpositionen und darüber hinaus noch eine sehr erfolgreiche Pop-Orchester-Formation - personell weitgehend aus den Mitgliedern des Boston Symphony Orchestra gespeist.
Das hat einen Teil des Publikums mehr gefordert, einen anderen aber auch mehr zufrieden gestellt, wie man schon an der umfangreichen Diskografie des Langzeitchefs der Boston-Pops, Arthur Fiedler, erkennen kann. Die enthält neben den bekannten Ohrwürmern der Klassik ebenso Western Music wie Wiener Walzer und Offenbach, ebenso Broadway Musicals wie Programme mit prominenten Jazzmusikern als Solisten.
Sein Nachfolger als Boston-Pops-Chef, John Williams, hat dann durch seine - auf Spielberg-Erfolgen basierende - Popularität als Filmkomponist das Repertoire des Boston Pops Orchesters um Hollywood-Elemente und die neuesten Broadway-Showstopper bereichert.
Musikerimport aus Frankreich
Anderseits begann mit Ende des Ersten Weltkrieges die französische Periode des Boston Symphony Orchestra, die mit den Musikdirektoren Henri Rimbaud, Pierre Monteux, Sergei Koussevitzky - er kam ebenfalls aus Paris nach Boston - und Charles Munch von 1918 bis 1962 dauerte, obwohl Munch als Elsässer ebenso für zusätzlichen deutschen Akzent gut war, wie Koussevitzky für einen russischen.
Das bedeutete mit Ende des Ersten Weltkriegs eine gravierende Richtungsänderung in der Repertoirepolitik. Denn zuvor gab es eine deutsche Dominanz, die vom Orchestergründer - Wilhelm Gericke (1881) - über Arthur Nikisch und andere bis Karl Muck, der als Deutscher knapp vor Ende des Ersten Weltkriegs sogar interniert wurde, fast ein halbes Jahrhundert gedauert hatte.
Den stärksten Einfluss - wie Stokowski in Philadelphia weit über seine Amtszeit hinaus - übte der Russe Koussevitzky aus. Er war nicht nur ein Verfechter französischer und russischer Musiktradition, sondern vor allem ein Vorkämpfer für die Moderne. Und ganz besonders ein Förderer junger amerikanischer Komponisten.
Kämpfer für den Nachwuchs
Ebenso wie in England der Erbe von Beecham-Pills, konnte sich Koussevitzky - allerdings mit Hilfe einer reichen Ehefrau - leisten, des Öfteren ein Orchester aus eigener Tasche zu finanzieren, mehr noch, Kompositionsaufträge zu vergeben und Komponisten zu unterstützen. Und wie Stokowski kümmerte er sich nicht um Besucherzahlen, sondern rivalisierte mit dem Philadelphia-Chef um eine - ideelle - Führungsposition in der Förderung zeitgenössischer Musik in Amerika.
Nach seinem Dirigentendebüt mit den Berliner Philharmonikern gründete er mit einem Kapital im Wert von einer Million Euro einen russischen Musikverlag, in dem bald die Partituren von Skrjabin, Prokofjew, Strawinsky und Rachmaninow erschienen. Und wenig später mietete er ein Dampfschiff, bevölkerte es mit dem eigenen Orchester und fuhr die Wolga auf und ab, überall Konzerte veranstaltend.
Auftrag an Ravel
Der Krieg und - in der Folge - die Revolution führten ihn nach Frankreich, wo er bis 1928 regelmäßig dirigierte, Komponisten förderte und Ravel den Auftrag gab, Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung" zu orchestrieren, ein Werk, das er in Paris uraufführte, dann in Amerika bekannt machte und auch bald mit seinen Bostoner Musikern im Schallplattenstudio aufnahm.
Unermüdlich vergab er Aufträge an Komponisten wie Barber, Copland und später auch an Bernstein und Benjamin Britten. So ist zum Beispiel die Oper "Peter Grimes" vor allem durch die Finanzierung der Koussevitzky-Foundation ermöglicht worden. Aber darüber hinaus hat er als Musikdirektor in Boston auch das Freilicht-Festival in Tanglewood gegründet und das Berkshire Music Center, für das er Lehrer wie Hindemith, Honegger und Messiaen gewinnen konnte.
Erst 2004 der erste Amerikaner
Bei einer so internationalen - besser interkontinentalen - Ausrichtung ist es weniger verwunderlich, dass erst 2004 mit James Levine der erste in den USA geborene Musiker zum Chefdirigenten des Boston Symphony Orchesters bestellt wurde. Und auch der hatte, obwohl die New Yorker MET seine musikalische Heimat war und ist - mit seinen zahlreichen Auftritten und Plattenaufnahmen mit den Wiener und den Berliner Philharmonikern und als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker einen stark auf Europa ausgerichteten Karriereverlauf.
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Hör-Tipp
Musikgalerie, Montag, 8. Oktober 2007, 10:05 Uhr
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Boston Symphony Orchestra