In Tasmanien das Glück suchen
Sturm
Mit "Sturm" ist Nicholas Shakespeare ein interessant konstruierter Roman gelungen, der eindrucksvoll von Leidenschaft, Trauer und Liebe erzählt. Und der uns Tasmanien zugänglich macht, das von unserer Welt so weit entfernt zu sein scheint.
8. April 2017, 21:58
In der fiktiven Kleinstadt Wellington Point, in der Abgeschiedenheit Tasmaniens, treffen sich die Mittzwanziger Alex und Merridy und fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Er hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren; sie ihren geliebten Bruder, der als Siebenjähriger spurlos verschwunden ist. Das Verschwinden von Menschen ist, laut Nicholas Shakespeare, eng mit Australien und der südöstlich davon gelegenen Insel Tasmanien verbunden. Deshalb war es unumgänglich diesen Mythos in die Geschichte einzubauen.
Unberührtes Tasmanien
Tasmanien, das lange Zeit die größte Strafkolonie des britischen Empire war, ist heute ein beliebtes Reiseziel. Unberührte Natur mit Regenwäldern und weiten Ebenen, die von Beuteltigern, Kängurus und dem berühmten Tasmanischen Teufel bewohnt werden. Hierhin ist Nicholas Shakespeare vor einigen Jahren geflüchtet. Nach sieben Jahren Arbeit an der Biografie des britischen Reiseschriftsteller Bruce Chatwin wollte er einen Ort aufsuchen, an dem der Weltenreisende Chatwin nie gewesen war. Doch anstatt sich auszuruhen, entdeckte Shakespeare seine eigenen tasmanischen Wurzeln und ließ sich mit seiner Frau und seinen Kindern an der Ostküste nieder, wo er die Hälfte des Jahres über lebt.
Intensive Recherchen haben vor zwei Jahren das Buch "In Tasmanien" hervorgebracht - eine Mischung aus Autobiografie, Reisebericht und Roman. Aus Faszination für das Land und auch aus familiärer Notwendigkeit, spielt nun "Sturm" ebenfalls wieder am Rande der Welt.
Ein neues Leben
17 Jahre, aufgeteilt in fünf Kapitel, umfasst der Roman "Sturm". Er beginnt mit der Begegnung der beiden Hauptcharaktere Alex und Merridy, die das Glück suchen, und er endet mit dem Finden desselben. Auf einer kleinen Farm am Rande des Ozeans wollen sich die jungen Eheleute ein neues Leben aufbauen - Kinder kriegen und glücklich werden. Doch Merridy wird einfach nicht schwanger. Detailliert und unaufgeregt beschreibt Shakespeare ihren Alltag zwischen Spagettikochen, Geldsorgen und unzähligen Schwangerschaftstests.
Die Einsamkeit in der Weite Tasmaniens ist spürbar, ebenso wie die beklemmende Enge der Kleinstadt Wellington Point, in der jeder jeden kennt und jeder alles weiß.
Der heute 50-jährige Autor lebte als Jugendlicher einige Zeit in Argentinien auf einer Rinderfarm und hörte dort oft den Spruch "Kleine Stadt, große Hölle". Erst seit er sich in Tasmanien niedergelassen hat, kann er diesen Ausspruch nachempfinden, der auch Grundlage seines Buches geworden ist.
Die Kunst der Austernzucht
Seine Energie setzt Shakespeare, der bisher vor allem politische Thriller wie "The Dancer Upstairs" oder "Snowleg" geschrieben hat, in typisch kleinstädtisches Geplänkel um. Traditionen und Engstirnigkeit dominieren, sodass zeitweise fast der Eindruck entsteht, die Geschichte würde im 20. und nicht heute, im 21. Jahrhundert spielen. Ähnlich einem klassischen Frauen-Roman ohne Tiefgang plätschert die Erzählung eine Weile vor sich hin, bis zu dem Zeitpunkt, als Merridy sich aufrafft und mit einer Austernzucht beginnt. Diese verschafft ihr nicht nur Selbstständigkeit sondern sie bringt auch wieder Lebendigkeit in den Verlauf des Romans.
Während der Autor für den Großteil seines über 500 Seiten starken Romans kaum recherchiert hat, musste er sich in die Kunst der Austernzucht erst einlesen. Interessante Fakten, wie die Tatsache, dass Austern besser wachsen, wenn sie mehrmals in ihrem Leben durch kräftiges Rütteln geschockt werden, sind mit der gefühlsintensiven Beschreibung der Innenwelt der Protagonisten verwoben. Die Austernzucht ist für Shakespeare beispielhaft für die Seele des Menschen, die ohne Schicksalsschläge und Trauer, träge und matt wäre.
Befreiung
Ein junger Mann, Kish, wird eines Tages von einem Sturm an den Strand gespült. Er schafft es, den toten Bruder und das fehlende Kind zu ersetzen und verhilft Alex und Merridy zum lang ersehnten Glück. Ab diesem Moment gewinnt die Geschichte enorm an Dynamik und die Leerräume, die anfangs noch vorhanden waren, werden durch eine tiefere Dimension aufgefüllt. Das Ausharren wird mit einem überraschenden Finale belohnt.
Nicholas Shakespeare gelingt es zwar nicht immer, die Klippen des Pathos zu umschiffen, aber mit "Sturm" ist ihm ein interessant konstruierter Roman gelungen, der eindrucksvoll von Leidenschaft, Trauer und Liebe erzählt. Und der ein Land und seine Bewohner zugänglich macht, die von unserer Welt so weit entfernt scheinen, und uns doch so nah sind.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 19. Oktober 2007, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 21. Oktober 2007, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Nicholas Shakespeare, "Sturm", aus dem Englischen übersetzt von Susanne Höbel, marebuchverlag
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