Ein weiterer 9/11-Roman

Falling Man

In seinen besten Momenten gelang es Don DeLillo, winzige Details als Metapher für die ganze Welt zu zeigen. In "Falling Man" gelingt DeLillo mitunter das Einfangen des Kleinen, das Beschreiben des großen Ganzen hingegen ist ihm nicht wirklich gelungen.

Was unterscheidet eigentlich Literatur vom Journalismus? Im Gegensatz zum Journalisten legt der Autor größeren Wert auf eine ausgefeilte Sprache und macht sich hoffentlich Gedanken über Erzähltechnik und Spannungsaufbau. Auch ist der Schriftsteller im Gegensatz zum Journalisten selten unter Zeitdruck und sein Werk ist umfangreicher.

Aber: Welchen Mehrwert bringt es, wenn ein Autor sich eines Themas annimmt, das bereits in allen Einzelheiten, mit allen Verästelungen, auf allen Medienkanälen rauf und runter gespielt wurde? Was also kann Don DeLillo noch zum Komplex 9/11 hinzufügen, das man nicht schon bis zum Überdruss gehört, gesehen, gelesen oder vielleicht sogar selbst erlebt hat?

Um die Antwort gleich vorwegzunehmen: wenig. In seinem Roman "Falling Man" tut er so, als hätte nicht jeder die in die Türme krachenden Flugzeuge und die vor Panik starren Menschen bereits tausend Male im Fernsehen gesehen. Man wird das Gefühl nicht los, als erzähle DeLillo ganz einfach jene Bilder nach, die in den Tagen nach den Anschlägen durch die Presse gingen.

Nicht nur die Bilder sind abgedroschen, auch die Handlung ist es: Keith Neudecker hat den Anschlag knapp überlebt. Leicht verletzt kehrt er wieder zu seiner Frau und seinem Kind zurück, die er Jahre zuvor verlassen hat. Wir wissen: Nach den Terrorattacken sehnten sich die New Yorker wieder nach einem Nest; die Menschen suchten ein Zuhause und interessierten sich wieder vermehrt für ihre alten Partner. Und auch der Schock, der sich wie Mehltau über
die Stadt legte, ist ein gerne und häufig beschriebenes Phänomen. Wie Keith stolpern auch alle anderen Figuren durch diesen Roman. Alles scheint fremd zu sein, alles seine natürliche Bedeutung verloren zu haben.

Literatur ist dann gut - um auf die anfängliche Frage zurückzukommen - wenn sie entweder das Kleine beschreibt, das im täglichen Medienrauschen untergeht, oder das große Ganze, das die Medien aufgrund von Zeitdruck und Platzmangel nicht beschreiben können. DeLillo war immer ein Spezialist für beides. In seinem besten Moment gelang es ihm, winzige Details als Metapher für die ganze Welt zu zeigen. In "Falling Man" gelingt DeLillo mitunter die Beschreibung des Kleinen. Da kann er dem Horror bis dato unbekannte Facetten hinzufügen.

Dort, wo es passiert, entwickeln die Überlebenden, die Menschen in der Nähe, die verletzt wurden, manchmal Monate später solche Knubbel, mir fehlt ein besserer Begriff, und es stellt sich heraus, dass diese von kleinen, von winzigen Fragmenten des Attentäterkörpers verursacht werden. Der Attentäter wird in Fetzen gerissen, buchstäblich Fetzen und Stücke, Fragmente von Fleisch und Knochen werden mit unglaublicher Kraft und Geschwindigkeit durch die Luft geschleudert, sie keilen, sie bohren sich in den Körper jedes Menschen, der in Treffweite ist. Kaum zu glauben, wie?

Keine politischen Aspekte

Das Große lässt DeLillo in seinem neuen Roman aus. Und das verwundert doch, bei einem Autor, den immer das Nicht-fassbare, die große Struktur hinter den alltäglichen Ereignissen interessiert hat. Man kann kaum glauben, dass DeLillo die politischen Auswirkungen dieser Anschläge - zwei Kriege mit unabsehbarem Ende, Zehntausende Tote in Afghanistan und im Irak und die moralische Krise der amerikanischen Politik im Ausland - nicht beachtet.

Der einzige politische Aspekt ist der in die Handlung eingewobene Rückblick auf die Geschichte der 19 Terroristen, aber auch die ist seltsam platt und liest sich wie jene Reportagen, die man aus Magazinen bereits kennt.

Im kollektiven Gedächtnis

Vielleicht ist es schlicht und einfach noch zu früh, einen 9/11-Roman zu schreiben. Oder vielleicht sind die Anschläge bereits so breit abgehandelt worden, dass sich kein Spalt mehr finden lässt, in dem ein Roman sich einnisten könnte. Die persönliche Traumatisierung; die Bilder von den einstürzenden Türmen; all das ist heute Bestandteil des weltweiten kollektiven Gedächtnisses.

Selbst jener Graubereich der öffentlichen Wahrnehmung, den Don DeLillo sonst so gerne beschreibt - die Idee einer großen weltweiten Verschwörung -, auch das ist bereits Allgemeingut, gibt es doch wohl über kaum ein Ereignis so viele Geschichten, vermeintliche Lösungen und angebliche politische Verstrickungen wie über 9/11.

Vielleicht, und das ist das Gefühl, das nach der Lektüre dieses Romans zurückbleibt, wird es den ultimativen Roman über die Terroranschläge nie geben. Vielleicht kann er nicht erzählt werden, weil er bereits tausend Male erzählt wurde. Könnte es sein, dass über 9/11 bereits so viel gesagt wurde, dass der Schriftsteller dazu verdammt ist, das zu wiederholen, was seit mehreren Jahren durch die Medien geistert? Und das kann keine freudige Aussicht für einen Autor sein.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Donnerstag, 25. Oktober 2007, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 28. Oktober 2007, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Don DeLillo, "Falling Man", aus dem Englischen übersetzt von Frank Heibert, Verlag Kiepenheuer und Witsch

Link
Die Zeit - Don DeLillo