Das berühmteste Palimpsest der Welt wird entschlüsselt
Der Kodex des Archimedes
Archimedes war einer der bedeutendsten Mathematiker der Antike. Dass nun Originalschriften von Archimedes entdeckt wurden, gilt als eine wissenschaftliche Sensation. Zwei amerikanische Wissenschaftler haben über diese Entdeckung ein Buch geschrieben.
8. April 2017, 21:58
Archimedes von Syrakus war einer der bedeutendsten Mathematiker der Antike. Daneben war er auch als Physiker und Ingenieur tätig. Archimedes formulierte die Hebelgesetze und schuf dadurch die theoretische Grundlage für die spätere Entwicklung der Mechanik. Dass nun Originalschriften von Archimedes entdeckt wurden, gilt als eine der größten wissenschaftlichen Sensationen. Dieses Palimpsest ist die einzige Quelle für zwei Abhandlungen des griechischen Mathematikers, die man bisher nur aus Erwähnungen kannte: nämlich die Methodenlehre und das Stomachion.
William Noel, Handschriftenkurator am Walters Art Museum in Baltimore, und Reviel Netz, Experte für griechische Mathematik an der kalifornischen Universität Stanford, verfassten abwechselnd je ein Kapitel ihres Buches "Der Kodex des Archimedes". Die Folge dieser Arbeitsteilung ist eine Uneinheitlichkeit im Anspruch an den Leser. Für die Kapitel über die Abhandlungen und Diagramme des Archimedes empfehlen sich mathematische Grundkenntnisse.
Ein mittelalterliches Gebetsbuch
Der Kodex war die meiste Zeit über verschollen. Er tauchte erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts auf und dann erst wieder zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1906 entzifferte der dänische Altphilologe Johan Ludvig Heiberg einen kleinen Teil der Texte. 40 Jahre später tauchte das Werk in Frankreich auf.
Es klingt ein wenig irreführend, wenn vom Archimedes-Kodex die Rede ist. Eigentlich handelt es sich um ein mittelalterliches Gebetsbuch aus dem Jahr 1229. Es kam nach heutigen Maßstäben auf barbarische, doch für damals auf sehr übliche Weise zustande: Wenn ein mittelalterlicher Schreiber Pergament brauchte, bediente er sich an bestehenden Büchern. Er schnürte sie auf, schabte die Schrift vom Pergament und halbierte die Folien. Der neue Text wurde also in einem Winkel von 90 Grad über den ursprünglichen drübergeschrieben. Ein solcherart weiterverwendetes Pergament nennt man Palimpsest.
Entdeckung von Texten anderer Autoren
Der Schreiber hat mehrere Archimedes-Texte verwertet, die vermutlich aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts stammen. Insgesamt hat er sich an sieben Büchern bedient. Die Entdeckung von Texten anderer Autoren kam für alle überraschend.
"Vieles enthüllte sich erst in den letzten Monaten", erzählt William Noel im Gespräch. "Wissenschaftler konzentrieren sich nun sehr auf die Reden von Hyperides und den von Alexander von Aphrodisia verfassten Kommentar zu Aristoteles. Die Entdeckung von Hyperides ist besonders wichtig. Er war einer der zehn großen Redner der griechischen Antike."
Schrifterkennung durch Teilchenbeschleuniger
Experimente mit verschiedenen Bildgebungstechniken eröffneten die Möglichkeit, die Gebete in einer, die unterliegenden Texte in einer anderen Farbe sichtbar zu machen. Doch die größte Herausforderung stellten vier Folien mit gefälschten Evangelistenporträts dar. Durch diese zum Originaltext durchzudringen, gelang mit dem Teilchenbeschleuniger an der Universität Stanford, wo man die Manuskriptseiten Röntgenstrahlen aussetzte.
"Wir suchten dabei nach Elektronen, die insbesondere Eisen aufspüren, denn die Tinte damals enthielt Eisen", so Noel. "Wenn man eine Seite des Palimpsests nun bestrahlt, erhält man eine Liste der Elemente: Es gibt etwa sehr viel Kalzium, das von der Bearbeitung der Tierhäute stammt. Es gibt ein bisschen Schwefel, Mangan, Kupfer, Zink, und sehr viel Eisen. Die Schrift kommt zum Vorschein, wenn der Computer die Verteilung des Eisens auf der Seite sichtbar macht."
Weitere Überraschungen erwartet
Im Zusammenspiel der verschiedenen Bildgebungsmethoden entdeckten die Forscher auf einigen Seiten Text, wo sie keinen vermutet hätten. Das Pergament sah so aus, als gebe es keine Schrift unter den Gebeten. "So hat es zumindest nach den Ergebnissen der konventionellen Bildgebunstechniken ausgesehen", so Noel. "Dann haben wir Schräglicht verwendet. Und plötzlich erkennt man: Hier steht ein Wort. Tinte sieht man keine. Doch man kann erkennen, was die Säure in der Tinte ins Papier geätzt hat."
Die Frage, die sich bei der Entdeckung jedes neuen Textes stellt, ist: Lohnt sich die Mühe, diesen zu übersetzen? "Wir rechnen damit, dass wir noch mehr Überraschungen erleben werden", meint Noel. "Aber ob es sich bei einem neuen Text um das zweite Buch der Poetik des Aristoteles handeln wird oder um einen Text, den es in jeder Universitätsbibliothek der Welt gibt, wissen wir nicht. Wir können nur abwarten."
Am 29. Oktober 2008, also auf den Tag genau zehn Jahre, nachdem der Kodex ersteigert wurde, sollen alle Computerdaten veröffentlich werden. Mit der Übersetzung aller Texte in Buchform ist erst 2010 zu rechnen.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
William Noel, Reviel Netz, "Der Kodex des Archimedes", aus dem Englischen übersetzt von Thomas Filk, C. H. Beck Verlag
Link
C. H. Beck Verlag - Der Kodex des Archimedes