Literarisches Denkmal für die Großmutter

Eine sehr kleine Frau

Mit seinem autobiografischen Roman "Die kleine Figur meines Vaters" hatte Peter Henisch 1975 seinen ersten großen Erfolg. Jetzt hat er sich wieder mit der Geschichte seiner Familie auseinandergesetzt und setzt seiner Großmutter ein Denkmal.

Gut 30 Jahre nach seinem Klassiker "Die kleine Figur meines Vaters" hat Peter Henisch noch einmal die eigene Familiengeschichte literarisch fruchtbar gemacht. Der Roman "Eine sehr kleine Frau" ist aus der Lebensgeschichte seiner Großmutter erwachsen. Doch während er für das Buch über den Vater ausführliche Tonbandinterviews geführt hat, hatte er für den neuen Roman nur wenige Briefe und Dokumente zur Verfügung. Das war aber durchaus kein Nachteil, sagt Peter Henisch im Gespräch, denn an die Großmutter habe er noch viele Erinnerungen.

Wien erwandert

Um die Großmutter präsent zu setzen, hat sich Peter Henisch im Buch ein Alter Ego, eine Spielfigur geschaffen: Paul Spielmann, den Erzähler des Romans. Dieser trägt so unverkennbar Züge seines Autors Peter Henisch - sogar Lage und Details seiner neuen Wiener Wohnung haben in den Roman Eingang gefunden - wie er sich gleichzeitig von Henisch klar unterscheidet: Spielmann war Literaturdozent in den USA, er ist ein Ex-Autor, der das Schreiben aufgegeben hat; erst die Rückkehr nach Wien katapultiert ihn hinein in seine Familiengeschichte und damit auch wieder ins Schreiben.

Diese Konstellation hat große Vorteile, ermöglicht sie es doch, Wien aus einer zugleich vertrauten und fremden Perspektive zu betrachten - ein Zug, der auch Henischs Roman "Schwarzer Peter" ausgezeichnet. Vor allem wird dieses Wien erwandert: Die Kindheitswege mit der Großmutter und die Orientierung in der gegenwärtigen Stadt sind ineinander verflochten.

Die junge Marta

"Das sollte doch möglich sein: sich in den Kopf der Großmutter zu versetzen", sagt sich Paul Spielmann und spürt, dass sich gerade das immer wieder als unmöglich erweist. Das Buch zeigt - erzähltechnisch konsequent -, wie sie in zwei Personen zerfällt: in die Großmutter eben, die sie für den kleinen Buben war, und in Marta, das junge Mädchen von einst, das er aus den Großmutter-Erzählungen und den eigenen Erinnerungen zu rekonstruieren versucht.

Marta, die Tochter des jüdischen Kohlengroßhändlers Augustin Glück, hat in ihrer Jugend einen so genannten "Fehltritt" begangen und von dem böhmischen Friseur Jaroslav Spielmann ein Kind bekommen. Doch der hat sich aus dem Staub gemacht. Wilhelm Prinz, Postangestellter, Patriarch und ein Nazi der ersten Stunde, hat sie aufgefangen. Martas jüdische Herkunft, die er kannte, musste verheimlicht werden. "Die arisierte Frau" war einer der Titel, die Peter Henisch für seinen Roman erwogen hat. Die Großmutter wird ihrer Identität beraubt, bis in die Lektüre hinein muss sie sich anpassen.

Doch Herr Prinz stirbt - nicht im Krieg und nicht, weil er ein illegaler Nazi ist, sondern im Hotel mit einer anderen Frau am Silvesterabend. Und Marta lernt das Alleinsein, hat ein bisschen Protektion und schlägt sich als Krankenschwester durch.

Lektüre und Leben vermischt

Nach dem Krieg wird der Enkel ihr Ein und Alles, ihre "letzte Liebe", wie es in der Familie heißt. Zu ihm kommt sie vom Spital: ein Weg durch sechs Bezirke und vier Besatzungszonen. Und die Großmutter erzählt und erzählt: Romane und Dramen, Weltliteratur ebenso wie das, was gemeinhin als Trivialliteratur gilt: "Vom Winde verweht" oder Vicky Baums Roman "Menschen im Hotel".

Wie die Lektüren der Großmutter mit ihrem Leben sowie mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland parallelisiert werden, zeigt große erzählerische Meisterschaft. Peter Henisch versteht sich auf intertextuelle Bezüge - sein letzter Roman "Die schwangere Madonna" hat das eindrücklich bewiesen.

Sich nicht unterkriegen lassen

Besonders gern hat die Großmutter Bücher von kleinen, widerstandsfähigen Frauen gelesen, die sich nicht unterkriegen ließen. Unterkriegen hat sie sich auch selbst nicht lassen. Im Alter hat sie sich ein Klavier gekauft und die Musik ihrer Jugend wiedergefunden, und am Ende ihres Lebens wollte sie nach Jerusalem. Doch das ist schon eine Erfindung des Romans. Nein, keine Erfindung, eher eine "frei steigende Assoziation", wie das Heimito von Doderer genannt hätte. An ihn schließt Henischs Roman mehrfach an. Paul Spielmann hat sogar in Amerika versucht, Doderer zu vermitteln; aber er ist damit bei seinen Studenten ebenso gescheitert wie bei seiner geschiedenen Frau.

Dem Roman tut die genaue Verortung wie die frei steigende Erinnerung gut. Er öffnet die Authentizität einer individuellen Lebensgeschichte immer wieder zu Panoramablicken auf das Wien der Zwischenkriegs- und der Nachkriegszeit und gibt auch Einblick in den biografischen Hintergrund des Erzählers Peter Henisch. "Eine sehr kleine Frau" ist aber kein Stück Autobiografie und schon gar keine Großmuttergeschichte, sondern ein ebenso einfach wie äußerst kunstfertig strukturierter Roman, der wie nebenbei auch seine eigene Entstehung vorführt. Souverän, berührend und faszinierend setzt er eine Maxime von Paul Spielmann um: Literatur ist ein Spiel mit gelebten und ungelebten Möglichkeiten.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 4. November 2007, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Veranstaltungs-Tipp
Literatur ist der Rede wert. Die Literarische Soiree mit Eva Rossmann, Peter Henisch und Julie Zeh, Mittwoch, 14. November 2007, ORF-Kulturcafe, Argentinierstrasse 30a, ab 19:00 Uhr

Buch-Tipp
Peter Henisch, "Eine sehr kleine Frau", Deuticke Verlag