Die Wahrheit auf Tonband
Blindlings
Claudio Magris' neuer Roman ist ein riesiger Monolog, ein hin- und herspringendes Tonband-Protokoll, ein ausuferndes Bekenntnis-Buch, das nicht nur auf ein Leben zurückblickt, sondern auf ein Jahrhundert, auf dessen düstere Seiten.
8. April 2017, 21:58
Schon der Anfang lässt keinen Zweifel: In diesem Roman kommt vieles zusammen - und nichts wird eins nach dem anderen erzählt. Da ist, schon auf den ersten drei Seiten, vom Almanach einer Strafkolonie die Rede, von der Hölle von Port Arthur und dem Gefängnis von Newgate, von der neunschwänzigen Katze und von Kanonenkugeln auf Infanteristen, vom Glücksspiel und von Kommunistengesichtern, von Island, Istrien und Fiume, von Fluchten und Niederlagen, von der Wahrheit - und von einem Tonband. Einem Tonband, dem der Ich-Erzähler seine Geschichte, seine Wahrheit anvertraut.
"Blindlings", Claudio Magris' neuer, großer Roman, ist ein riesiger Monolog, ein hin- und herspringendes Tonband-Protokoll, ein ausuferndes Bekenntnis-Buch, das nicht nur auf ein Leben zurückblickt, sondern auf ein Jahrhundert, auf dessen düstere Seiten: Gewalt, Krieg und Deportation, Verfolgung und Verrat.
Tragisch gescheitert
"Blindlings" erzählt die Geschichte des Salvatore Cippico. Eingeliefert in eine psychiatrische Klinik in der Nähe von Triest, gibt der vermeintlich Verrückte, schon über 80-Jährige die Geschichte seines Lebens zu Protokoll - sprunghaft und fragmentarisch, ab- und ausschweifend. Eine abenteuerliche Odyssee, die der überzeugte Kommunist, der als festen Beruf Sträfling und Verhörter angibt, durch- und überlebte, mit Stationen in Dachau und Goli Otok, Titos Gefängnisinsel in der Kvarner Bucht.
Claudio Magris, der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, der immer wieder seine Heimat Triest zum Thema seines Schreibens machte, hat sich in seinen literaturgeschichtlichen wie literarischen Arbeiten stets mit Zeitgeschichte befasst. So auch in "Blindlings", der Summe seines literarischen Werks, dem Opus magnum des 68-Jährigen. Sein Held ist Salvatore, ein tragisch Gescheiterter und doch glücklich Davongekommener, sein eigentlicher Protagonist aber ist die Geschichte, sind ihre blutigen Kämpfe und tödlichen Konflikte.
"Der Held ist eine erfundene Gestalt, ein Mann, der diese schreckliche Odyssee gemacht hat, die mich faszinierte", erzählt Magris im Gespräch. "Menschen, die immer am falschen Platz, im falschen Moment für eine falsche Fahne, für Stalin, gekämpft haben, aber mit einer solchen Fähigkeit nicht an sich zu denken, sondern sich selbst zu opfern: Das ist ein Erbgut für uns alle, auch wenn wir nicht ihren Glauben teilen."
Das Leben als Irrfahrt
Der Roman erzählt jedoch nicht nur die verrückte Geschichte des Salvatore Cippico, der Roman erzählt auch die Geschichte eines dänischen Abenteurers, der gut 100 Jahre vor Salvatore lebte und vagabundierte, die Geschichte des Jorgen Jorgensen - eine wahre Geschichte. Jorgensen war Freiheitskämpfer, Seemann und Schriftsteller, selbsternannter König von Island und Gründer von Hobart Town, Walfänger, Scharlatan und nicht zuletzt: ein Sträfling. In ihm erkennt Salvatore sich selbst, findet er sein eigenes Schicksal gespiegelt.
Die Geschichte besteht aus einmaligen Ereignissen, aber sie besteht auch aus Koinzidenzen, Parallelen, geheimen Grundmustern - das ist die diesem Roman eingeschriebene Erkenntnis. Salvatore ist keine Blaupause von Jorgen Jorgensen, und doch präfiguriert dieser Lebenserfahrungen von jenem: das Scheitern der Revolution, das Leben als Irrfahrt, die Denunzierung der Ideale, das Desertieren vom "Schlachtfeld der Liebe", der Wechsel von Befreiung und Unterdrückung, von Aufbruch und Schiffbruch, von Utopie und Entzauberung.
Menschen und Mythen
"Man muss die Dinge ohne Unterlass erzählen, sonst vergisst man sie", sagt Salvatore, der Held des Romans. Und so erzählt auch Claudio Magris: dicht, verschlungen und fast rauschhaft, in einem weit ausgreifendem Erzählstrom, der Zeiten und Geschichten, Menschen und Mythen unentwegt ineinanderschwemmt - und damit einem Erzähler entspricht, der einmal als "halluzinierender Mythomane" beschrieben wird. "Blindlings" ist ein Roman, der durch seine sprachliche Eleganz ebenso besticht wie durch die Fülle der souverän miteinander verwobenen Motive, dabei dem Leser aber auch eine durchaus schwierige Lektüre zumutet.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 9. November 2007, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 11. November 2007, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Claudio Magris, "Blindlings", aus dem Italienischen übersetzt von Ragni Maria Gschwend, Hanser Verlag