Die Menschen auf "Nighthawks"
Nachsaison
Das wohl berühmteste Gemälde des Amerikaners Edward Hopper hat den französischen Autor Philippe Besson zu seinem neuen Roman inspiriert: Er erzählt die Geschichte der Menschen auf dem Bild "Nighthawks", sensibel, scharfsichtig und sehr emotional.
8. April 2017, 21:58
Zwei Menschen in einem fast leeren Café, hinter dem Tresen der Barkeeper, am anderen Ende der Bar ein einsamer dritter Mann: Das wohl berühmteste Gemälde des Amerikaners Edward Hopper hat den französischen Autor Philippe Besson zu seinem Roman "Nachsaison" inspiriert, in dem er die Geschichte der Menschen auf dem Bild erzählt.
Wiedersehen nach fünf Jahren
Louise, die Frau im roten Kleid, wartet auf ihren Liebhaber Norman. Sie ist oft in der Bar, und Ben, der Barmann, bringt ihr ohne zu fragen ihren Martini. Aber dann erscheint nicht Norman, sondern Stephen, der Louise vor fünf Jahren verließ, um eine andere zu heiraten. Schon am Beginn seines Buches webt Besson eine seltsam verlorene, melancholische Atmosphäre, die genau jener des Gemäldes "Nighthawks" entspricht:
"Man hat immer Ideen, die im Kopf herumgehen, man weiß nicht, wie man sie erzählen will, wie man es machen will", erzählt Philippe Besson. "Und plötzlich passiert etwas, ein Zufall, der das Buch dann provoziert. Für mich war das wirklich das Gemälde von Hopper, das alles initiiert hat, denn alles spielt sich im Ambiente des Bildes ab, in dieser ganz besonderen Atmosphäre in diesem speziellen Moment.
Erinnerungen werden wach
Louise, die Theaterautorin, und Stephen, der Rechtsanwalt, tauchen ein in ihre Vergangenheit. Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre werden wach, als die vielversprechende junge Schauspielerin und der Harvard-Absolvent aus guter Familie eines der bekanntesten Paare in Boston waren. Aber auch die schlechten Zeiten drängen mit Macht an die Oberfläche, als Stephen sich gegen Louise entschied und sie beschloss, einen Strich unter das Geschehene zu ziehen und nie wieder darüber zu sprechen.
Beobachtet werden die beiden von Ben, dem Barkeeper, der seit elf Jahren in der Bar arbeitet und sowohl Stephen als auch Louise genau kennt.
Ben ist überrascht über die Zaghaftigkeit der beiden, über ihre Scham, über ihre große Schwierigkeit, ein Gespräch anzuknüpfen oder auch nur ihrer Stimme den richtigen Klang zu geben, wo sie sich doch so nahe standen, wie es nur Liebende tun, wo sie wirklich alles vom anderen wissen, wo ihnen nichts unbekannt ist. Er ist verblüfft über ihre Reserviertheit und ihre Zurückhaltung, die Hilflosigkeit auszudrücken scheinen. Er ist gerührt über ihre Verwirrung, während er ihre Versuche, die Gesten wiederzuerlernen, sich der Vergangenheit wieder zu bemächtigen, beobachtet. Er denkt an den Abstand, den die Menschen zwischen sich errichten, den die Zeit bewirkt, an die Abgründe, die sich auftun, ohne dass man weiß, wie man sie wieder zuschütten soll und welche Anstrengung dies erfordern wird. Er sieht sie beide zum ersten Man zittern. Sie haben das weiße Glühen von Phantomen an sich.
Den Gedanken nachhängen
Es ist ein behutsamer, ein sanfter und ein bisschen trauriger Roman, den Philippe Besson geschrieben hat. Die Dialoge sind spärlich, die Protagonisten wechseln kaum mehr als ein paar Worte. Nicht um eine Handlung geht es, sondern um die inneren Monologe, die Gedanken, denen jeder für sich nachhängt, die lang unterdrückten Gefühle, die plötzlich wieder erwachen. Besson leuchtet in eindringlichen, knappen Sätzen die emotionale Dimension hinter dem Unausgesprochenen aus und zieht den Leser in eine stille, einsame und dennoch aufwühlende Welt jenseits der Worte.
Der Leser hat kaum eine andere Wahl, als Besson und seinen Protagonisten in die leere Bar zu folgen. Besson ist ein emotionaler Autor und ebenso emotional ist sein Text - ein Text, der das Ungesagte thematisiert und das Schweigen zur eigentlichen Maxime erhebt, ohne dabei jemals langatmig zu werden. Ganz im Gegenteil: Sensibel und scharfsichtig taucht Besson in die Gefühle seiner Figuren ein. Nichts ist wirklich besonders an diesen Gefühlen, fast jeder hat sie so oder ähnlich selbst erlebt, aber gerade dieses Unbesondere macht die Charaktere nachvollziehbar - vor allem Louise, die eigentliche Hauptfigur des Buches.
Den Menschen eine Geschichte geben
Das Buch endet mit Stephens und Louises Aufbruch, nachdem Louise erfahren hat, dass Norman nicht mehr kommen wird. Es ist ein Ende, das vielleicht einen neuen Anfang markiert und vielleicht auch nicht, aber darum geht es gar nicht. Besson hat ein Bild auf kluge und berührende Weise zum Leben erweckt, hat den dargestellten Menschen eine Geschichte gegeben und ein wunderbares Buch geschaffen, das Hoppers Gemälde nahezu perfekt ergänzt, ohne den vorgegebenen Rahmen zu sprengen.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Philippe Besson, "Nachsaison”, dtv
Links
Wikipedia - Edward Hopper
ibiblio.org - "Nighthawks"
Service
artsy.net - Edward Hopper