Der Traum vom neuen sozialistischen Menschen
Bulgarien in Theorie und Praxis
Die bulgarischen Kommunisten wollten eine klassenlose, moderne Gesellschaft gründen, die auf den Prinzipien des kollektiven Eigentums und der staatlichen Wirtschaftsplanung beruht. Bewohnt werden sollte sie vom neuen sozialistischen Menschen.
8. April 2017, 21:58
Zwischen 1945 und 1948 eroberten die bulgarischen Kommunisten schrittweise die Macht im Land. Die Kommunisten wollten die Gesellschaft grundlegend verändern: Es sollte ein klassenlose und gleiche, eine industrialisierte und moderne Gesellschaft werden, die auf den Prinzipien des kollektiven Eigentums und der staatlichen Wirtschaftsplanung beruhen sollte.
Bewohnt werden sollte diese Gesellschaft von einem neuen, dem sozialistischen Menschen. Und der sollte nahezu ein Übermensch sein: er sollte nicht nur in seinen ideologischen Positionen sattelfest sein, sondern sollte sich auch in seiner alltäglichen Praxis als Sozialist erweisen - wobei die Vorstellung war, dass die Menschen diese Vorgaben nicht als äußeren Zwang erleben, der polizeimäßig kontrolliert wird, sondern dass sie diese früher oder später auch internalisieren würden.
Askese angestrebt
In den frühen Jahren des bulgarischen Kommunismus war der angestrebte Habitus ein recht asketischer. Parteichef Georgi Dimitrov erteilte 1948 den Mitgliedern der kommunistischen Kinderorganisation die folgenden Ratschläge:
Erstens: Jeden Tag Körperkultur, Bewegung, Abhärtung. Zweitens: Bleibt morgens nicht faul im Bett liegen, wozu es den Menschen gewöhnlich verlockt. Sofort wenn ihr aufwacht, steht auf, treibt etwas Körperkultur und beginnt mit der Arbeit! Drittens: Lasst keine Trägheit aufkommen! Wenn ihr Trägheit verspürt, bekämpft sie sofort und befreit euch von ihr. Viertens: Lasst euch nicht von oberflächlichen, flüchtigen und oft schädlichen Vergnügungen mitreißen! Ihr müsst euch die gesunden Vergnügungen aussuchen, die eure körperlichen und moralischen Kräfte steigern, und nicht solche, die eure Gesundheit schädigen und euren Willen schwächen können.
Von der bäuerlichen zur industrialisierten Gesellschaft
In den Nachkriegsjahren begann in Bulgarien eine grundlegende soziale Umgestaltung. Eine bäuerliche Gesellschaft begann, sich zu industrialisieren. Zwischen 1947 und 1975 verließen im Acht-Millionen-Land rund 1,7 Millionen die Dörfer und siedelten sich in den Städten an. Die Propagierung des neuen Menschen war einer der Hebel, um diese bäuerlich aufgewachsene Bevölkerung an moderne und urbane Lebensstile heranzuführen. Denn die vielen früheren Bauern, die Arbeit in der Industrie suchten, brachten ihre Sitten und Gebräuche in die Städte mit.
Sogar in der neu errichteten Vorzeigestadt Dimitrovgrad wurden zwischen den Blocks Gemüsegärten angelegt, es gab Schweine- und Hühnerställe. Die Stadtverwaltungen mussten das Weiden von Vieh in öffentlichen Grünanlagen untersagen. Es handelte sich dabei aber nicht um ein bloß anachronistisches Weiterleben von ländlichen Verhaltensweisen, in Anbetracht der Versorgungsmängel war das durchaus rational.
In damaligen Berichten wurde die fehlende Arbeitsdisziplin und Pünktlichkeit, die mangelnde Hygiene und Esskultur dieser neuen Proletarier kritisiert. Das Gegenrezept hieß "Kultiviertheit". Auf Straßenschildern hieß es: "Das Wegwerfen von Abfällen, das Essen von Sonneblumenkernen und das Ausspucken sind Anzeichen einer niedrigen Kultur."
Regulierung der Konsumwirtschaft
Ende der 1950er Jahre, als die Aufbauphase abgeschlossen war, begann die Wirtschaftspolitik Bulgariens, stärker in die Konsumgüterindustrie zu investieren. Doch das brachte ein Problem mit sich: Zu stark durfte der Konsum nicht zunehmen, zu üppig durften die Konsumwünsche nicht ausfallen. Das würde das planwirtschaftliche System nicht erfüllen können.
Zur Regulierung der Konsumwünsche wurde wieder an die sozialistische Moral appelliert, der sozialistische Konsument sollte eher an geistigen Werten interessiert sein. Diese Regulierung der Konsumwünsche war umso wichtiger, als in den 1960er Jahren das Wissen der bulgarischen Bevölkerung über die Konsumstandards in der westlichen Welt größer wurde.
Ideologische Belehrungen
Einige Bulgaren konnten in den Westen reisen, westliche Touristen kamen im Sommer an die Schwarzmeerküste, es gab für sie eigene Devisenläden - kurz: Es konnte verglichen werden. Die Partei musste dem vorbauen. Es gab Kurse mit dem Titel "Die Wahrheit über den Lebensstandard in den kapitalistischen Ländern und bei uns", in denen ideologische Belehrungen wie die folgende erteilt wurden:
Jede Strumpfhose, jedes Magnetophon, jeder Plattenspieler, jeder Kühlschrank, jedes Parfum, jeder Lippenstift, alle Schuhe und Kleider, und insbesondere jedes Auto - sie werden ins Land geschickt, um ideologische Diversion zu verüben.
Teilnahme ohne Anteilnahme
Die ideologischen Initiativen der kommunistischen Zeit sind alle mehr oder minder im Sand verlaufen. Die Menschen nahmen an den öffentlichen Manifestationen des Regimes zwar teil, aber ohne besondere Anteilnahme. Sie arrangierten sich mit dem System und konzentrierten sich auf das Privatleben und das Wohlergehen ihrer Familien. Die Arbeitsdisziplin war relativ lax, die Arbeitskräfteknappheit im Lande hinderte die Betriebsleitungen an einem strengeren Durchgreifen.
Im Jahr 1966 gingen in der bulgarischen Industrie pro Arbeiter wegen unerlaubten Fernbleibens durchschnittlich sieben Arbeitstage verloren, in der Bauwirtschaft waren es sogar ganze 16 Tage. Die Erinnerung an einen geringeren Arbeitsdruck und einen gesicherten Arbeitsplatz mag angesichts der sozialen und ökonomischen Kosten des Systemwechsels nach dem Fall des Kommunismus einer der Gründe sein, sagt der Historiker Ulf Brunnbauer, warum im Bulgarien von heute eine gewisse Nostalgie nach den Jahren des Kommunismus festzustellen ist.
Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 14. November 2007, 19:05 Uhr
Buch-Tipp
Ulf Brunnbauer, "Die sozialistische Lebensweise - Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien 1944-1989", Böhlau-Verlag
Herrmann Hagspiel, "Bulgartabac im Austria-Pack - Österreichischer Osthandel im Spiegel bulgarischer Geheimdokumente", Braumüller-Verlag.
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