Der Mittelpunkt des Körpers
Empathie für fremde Bauchnabel!
Das Kreisen um den Bauchnabel ist dem Menschen systemimmanent. Als würde mit dem Nichtkreisen die Seele mit einem lautloses Plopp durch den Nabel entweichen. Zugekorkt, lässt sich der Kopf aber wieder leichter heben und den Blick auch anderen Egos zuwenden.
8. April 2017, 21:58
Mit dem Bauchnabel ist es so eine Sache. Er ist kreisrund, führt ins Innere und nur wegen der postnatal abgeknappsten Schnur sind wir jetzt Menschen, die eigenständig am Computer (der wiederum einen Stromnabel oder zumindest Akku braucht) sitzen.
Manche Nabel sind knopfgroß und hohl, andere wiederum flach und randvoll, bei wiederum anderen - wie dem meinen - ist es einerlei, ich seh' ihn eh nicht.
Das endlose Beschauen der eigenen Körper- und Sinnesmitte hat zur Folge, dass die Umwelt kleiner und unbedeutender wird, sprich: die Empathie für Mitmenschen nimmt horizontal zur Eigenbegutachtung ab. Das Erlebte bläst sich vom mikrokosmischen Schwank zur allgemeingültigen Wahrheit auf. So werden aus Polen Autofladerer, aus Deutschen humorresistente Besserwisser und aus Engländern geschmacklose Futterverwerter.
Geht es um Geschichte - die eigene oder die im Allgemeinen -, kann sich der Blick noch schwerer vom Ich lösen. Die Generation zwischen 65 und 70 zum Beispiel erhebt gern den Anspruch mehr über den Krieg zu wissen als ich, die 30 oder 35 Jahre jünger ist. Sie waren zwar auch nicht dabei, aber ihre Mütter, Väter, Tanten, Onkeln, ältere Geschwister, Cousins und Cousinen. Damit wird klargestellt: Wir waren noch eher im Krieg als Du und brauchen uns von überhaupt niemandem irgendetwas zu dem Thema sagen zu lassen. Schon gar nicht von Menschen unter 50.
Wer kennt das nicht? Jedes Mal im trauten Familienkreis und mit zunehmender Weinseligkeit dasselbe Phänomen: Die Augen werden auf Knopfdruck feucht, die Erzählungen zu den hundertfach gehörten Geschichten sind wortident. Auf Zuruf kommt Betroffenheit, Kritik kann es, darf es nicht geben, weil die Jungen das alles nicht mitgemacht haben. Auch wenn die ErzählerInnen nicht einmal im Schulalter waren, als der Krieg vorbei war.
"Das war ja alles ganz anders", ruft dann auch der 90-jährige Habschi meiner Großmutter regelmäßig aus und greift umfassend zurück, beginnend mit dem Jahr 1929. Ein Gespräch, das thematisch mit Autoreparaturen, Geburtstagstorten oder Banküberfällen beginnt, endet automatisch mit fünf Verwundungen und der Kapitulation.
Manche Nabel sind eben traumatisiert und so groß, dass ganze Reiche darin untergehen können.
Die Banalen kommen auch ohne jedes Trauma aus. Betrachten sich gefällig im Spiegel und erklären die umgebenden Bauchnabel für nichtig. Sie klingeln dann täglich um 21:00 Uhr an fremde Türen, weil sie just da am Liebsten mit dem Neugeborenen spazierengehen - auch wenn sie noch drei Monate davor Spontanbesuche gehasst haben. Oder sie können Gesellschaft nur ertragen, wenn es um sie selbst geht. Hebt das Vis á vis zum ersten eigenen Satz an, schweift der sich trübende Blick vom Gegenüber zum Monitor.
Die Welt der Bauchnabel ist groß. Wie die Löcher beim Beatles-Film "Yellow Submarine". Kaum auf den Boden aufgelegt, verschwindet alles darin. Kaum abgezogen und eingesteckt, sind sie fort. Und die Welt wird wieder bunt und voll von anderen Bauchnabeln. Runden und flachen und gefüllten und...