Ohne Schmiergeld geht nichts
Korruption als Lebensform
Wer gut schmiert, fährt gut, egal, ob er eine Baugenehmigung oder eine Nachtlokallizenz benötigt. In Russland müssen Sanitäter von Rettungswagen genauso bestochen werden wie Verkehrspolizisten, höhere Beamte oder sogar Gerichte.
8. April 2017, 21:58
Das Moskauer Lewada-Zentrum erhebt in regelmäßigen Abständen die Erfahrungen der Russen mit Korruption in sämtlichen Lebensbereichen: An Verkehrspolizisten werden durchschnittlich 5.000 Rubel bezahlt. Der Einfallsreichtum der Verkehrspolizisten, wie sie zu Geld kommen, ist geradezu bemerkenswert: Ein Polizist schaltet die Ampel für den Rechtsabbieger in dem Moment manuell um, als der Lenker in die Kreuzung einfährt. Sein Kollege hält nach der Kurve auf: Nicht dass Väterchen Staat mehr einnimmt, jetzt geht's ums verhandeln, "Rasdelim". Das will gelernt sein, wofür man üblicherweise eine Zeitlang braucht. Strafzettel bekommt man schließlich keinen, aber man hat auch nur die Hälfte bezahlt. Die Hälfte wovon auch immer.
Bestochen wid überall
Korruption ist ein Phänomen, das sämtliche Bereiche und Schichten einer Gesellschaft betrifft - vor allem, wenn ein Systembruch erfolgt und die Staatskassen leer sind. Bestochen wird an Universitäten, um zugelassen zu werden und um einen Abschluss zu bekommen. Selbst im Falle von Putins Leningrader Dissertation über den Umgang mit den nationalen Ressourcen wurde nachgewiesen, dass sie Großteils Paraphrase einer amerikanischen Studie ist.
Bestochen wird, um der Stellungskommission zu entkommen, vor der in Moskau seit Jahren ohnedies nur eine Minderheit erscheint. Wer seinen Militärdienst absolviert, hat vielleicht das Glück, die Datscha irgendwelcher Offizier zu reparieren und nicht nach Tschetschenien versetzt zu werden, wo Soldaten Waffen und Granaten an den sogenannten "terroristischen Gegner" verschachern, oder ins übliche System der "Dedowschina" einzutreten, jene Vetternwirtschaft, der pro Jahr etliche Tausend Präsenzdiener zum Opfer fallen. Ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht und späterer zufälliger Verurteilung stellt für manche kein Problem dar, weil die Richter auch Geld nehmen.
Ein etabliertes System
Für Georgij Satarow, ein Veteran aus der Jelzin-Administration, heute Leiter des Antikorruptionsinstituts INDEM, liegen die Gründe für den rasanten Anstieg der Korruption - die nebenbei unter Putin ebenso hoch sei wie unter Jelzin - in der Vergangenheit: "Die Korruption hat sich damals, in Sowjetzeiten, als umfassendes System etabliert", sagt er. "Die Wurzeln der heutigen Korruption reichen dorthin zurück. Genau so, wie die Tradition der Bezahlung von Schmiergeldern in der Sowjetzeit aus der vorkommunistischen Zarenherrschaft herüberkam."
"Magritsch", einer der Namen für Schmiergeld, stammt aus der Welt der Rosshändler. Unter Peter dem Großen, der in Russland eine umfangreiche Beamtenschaft einführte, die in den untersten Ebenen extrem schlecht bezahlt war, wurde sophistisch zwischen Msdomstwo und Lichoimstwo unterschieden: Vorteile des Beamten aus rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Handlungen. Nicht zufällig hat das berühmteste russische Theaterstück, Nikolaj Gogols "Revisor" aus 1836 Bestechung zum Gegenstand.
Schmiergelder "legalisieren"
Nicht nur die Korruption in ihrer heutigen Form hat ihre Ursprünge in der Breschnew-Zeit mit den zahlreichen obskuren Privilegien einer parasitären "Nomenklatura", auch der Stil der Antikorruptions-Propaganda hat dort ihren Ursprung: Die asketischen Kronenwächter des KGB ließen unter Andropow auch den einen oder anderen am Schwarzmarkt besonders umtriebigen Supermarktdirektor erschießen, um den Unmut der Bevölkerung zu beschwichtigen.
Als der Ökonom und Moskauer Bürgermeister Gawril Popow unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion meinte, die Schmiergelder der Beamten sollten einfach "legalisiert" werden, erregte das noch allgemeines Erstaunen. Heute ist es Realität. Wer will, kann auf unzähligen Seiten im Internet kompromittierendes Material darüber nachlesen, wer wann wie viel und auf welche Weise seinen Teil aus dem einstigen Volkseigentum bekam.
Den Humor nicht verloren
Neuester Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Wladimirowitsch Putin: Ab dem Neuen Jahr wird in Russland das Schmiergeld abgeschafft. Der Witz ist berechtigt, wenn auch harmlos, so wie jener: Russland befinde sich in der Statistik der korruptesten Länder an zweiter Stelle. Wir wären erste, haben aber die zuständige Kommission bestochen.
Man lebt damit. Dass alle daran beteiligt sind, wurde mir erstmals klar, als ein befreundeter Architekt, der für die Moskauer Stadtregierung offiziell ein Wohnhaus plante, von den munizipalen Auftraggebern zur Bezahlung der Bauarbeiter einfach Schwarzgeld in die Hand gedrückt bekam. 1 Million Dollar. Tatsächlich beläuft sich die Gesamtsumme an in Russland im Umlauf befindlichen Schmiergeldern auf 316 Milliarden US-Dollar. Fast ein Drittel des BIP.
Fromme Wünsche
Präsident Putin erklärte mehrfach, man müsse Bedingungen schaffen, unter welchen den Menschen ihr Arbeitsplatz mehr bedeutet als das Geld, das sie in Form von Schmiergeld bekommen. Der Chef seiner obersten Antikorruptionsbehörde, Kyrill Kabanow, erklärt sachkundig und offenherzig, dass das Gegenteil solch frommer, aufgeklärter Wünsche die Realität darstellt:
"Alle Erklärungen über Maßnahmen gegen Korruption bleiben bloße Absichtserklärungen. Wird ein korrupter Beamter entfernt, nimmt seine Stelle einer ein, der diesen Posten entweder gekauft hat, oder der aus anderen als sachlichen Gründen auf diesen Posten gesetzt wurde. Das Amt eines Beamten in den höheren Rängen kostet 50.000 Dollar, der Preis mancher politischer Ämter geht in Millionenhöhe."
Für zwei Dosen Bier
Korruption kann auch Freude bereiten. Zumindest jenem Verkehrspolizisten des Jahres 1990, der den Ausländer, der gerade in einem geborgten Auto einkaufen fährt und seinen Führerschein vergessen hat, unumwunden fragt: "Und was machen wir jetzt?" Er erklärt sich bereit, die in Naturalien zu begleichende Strafe auch später entgegen zu nehmen. Es müsse allerdings Tuborg oder Carlsberg sein. Als ich eine Stunde später auf der stark befahrenen Twerskaja, der Hauptstraße anhalte und überlege, wie man einem Polizisten einfach so offen das Bier übergibt, zögert der, als er mich sieht, nicht lange: pfeift, hält mit seinem Regulierstock den Verkehr auf, winkt mich zur Straßenmitte und nimmt strahlend die beiden Dosen Bier entgegen. Er hält sie in die Luft, der Verkehr steht noch immer vierspurig, lässt sie in die Taschen seines schweren Ledermantel fallen und geht gemächlich an seinen Platz zurück, in Erwartung des nächsten Verkehrssünders.
Mehr zu Korruption in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 24. November 2007, 17:05 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Links
compromat.ru (russisch)
Transparency International