Machado de Assis aus Brasilien
Vom Underdog zum Dichterstar
Was für ein Glück, dass der Lehrherr nichts von der Epilepsie seines Auszubildenden ahnte. Und dass er das Stottern des ehrgeizigen 16-Jährigen großzügig überhörte. Dass er damit einem Dichter von Weltrang ins Leben half, ahnte er auch nicht.
8. April 2017, 21:58
Die Voraussetzungen waren denkbar ungünstig. Der junge Joaquim Maria Machado de Assis, 1839 geboren, kam aus ärmlichsten Verhältnissen. Sein Vater, ein Anstreicher und Hilfsarbeiter, Sohn freigelassener Sklaven, starb früh. Die Mutter, auch eine, die vergebens gehofft hatte, in der Fremde ihr Glück zu finden, überlebte ihn nicht lange. Sie stammte von den Azoren und fristete als Wäscherin ihr Dasein. Vielleicht hat sie ihrem Sohn den Ehrgeiz mitgegeben: Du musst etwas aus dir machen. Das könnte sie ihm jeden Abend ins Ohr geflüstert haben, während sie ihn Lesen und Schreiben lehrte. Und vielleicht hat sie ihm auch die Geschichten seiner Groß- und Urgroßeltern erzählt. Die Sklavereigeschichten. Und die von den armen Bauern auf den fernen Inseln, denen es auch nicht viel besser ging.
Drei Sprachen fließend
Vielleicht stimmt aber auch die andere Geschichte: dass sich der kleine Joaquim nach dem Tod seiner Eltern alleine durchs Leben schlug, dass er heimlich die Schule besuchte und lernte wie ein Verrückter. Und es muss der verbissene Ehrgeiz gewesen sein, der seinen zukünftigen Lehrherrn überzeugte, diesen Jungen als Druckerlehrling anzunehmen. Und damit war es klar. Der Junge hatte den Weg des zukünftigen Intellektuellen begonnen, den er auch im Laufschritt durchmaß.
Bald sprach er drei Sprachen fließend: Neben dem brasilianischen Portugiesisch auch Französisch und Englisch. Und dann arbeitete er als Journalist. Mit 16 veröffentlichte Joaquim Maria Machado de Assis sein erstes Gedicht. Mit 20 engagierte er sich wie jeder Intellektuelle damals gegen die Sklaverei. Seine Waffe: Er schrieb. Er prangerte das soziale Elend von Schwarzen und Mischlingen an - weshalb er in jungen Jahren als Romantiker galt. Mit 30 schockierte die literarische Elite Rios, als er ihr den feurigen, aus Bahia stammenden Sklavendichter Castro Alves vorstellte.
Scharfer Beobachter der Menschen
Joaquim Maria Machado de Assis blieb nicht in der brasilianischen Romantik stecken. Aus seinen Geschichten ist seine Wandlung abzulesen, vom Chronisten der oberflächlichen Harmlosigkeit des Kaiserreichs zum scharfen Beobachter menschlicher Schwächen. Die zeitgenössischen Kritiker waren irritiert und glaubten, ihn mit dem Vorwurf, er wäre ein grenzenloser Pessimist, in die Schranken weisen zu können, denn einer, der Epileptiker ist, schlossen sie messerscharf, muss Pessimist sein. Kann daher auch nicht an den Sieg der Moral glauben. Wird sich daher auch nicht mit seinem Volk identifizieren, weil er ja doch so anders ist.
Typisch für Machado de Assis: Er ließ die Kritiker schwafeln und ging weiter seinen Weg. Schrieb phantastische Erzählungen wie die des jungen Mannes, dem jemand ein Drama vorliest und der vom Zuhörer unversehens zum Mitspieler wird - "Der türkische Pantoffel" (1875). Oder die Geschichte eines anderen jungen Mannes, der über der Ablenkung, die zwei Frauenarme ihm bescheren, seine Aufgabe vergisst - "Frauenarme".
Einfache und objektive Sprache
Große Aufmerksamkeit gewinnt Machado de Assis mit seinem Roman "Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas": einerseits durch seine einfache und objektive Sprache, die dennoch immer von Zweifel überschattet wirkt, andrerseits durch den finsteren Pessimismus und die Bitterkeit, die oft genug in ätzenden Hohn umschlägt - und die Kritiker auf den Plan ruft.
Internationalen Ruhm bringt ihm sein 1899 erschienener Roman "Dom Casmurro", die Lebensgeschichte eines von der Eifersucht Getriebenen, der durch die Eifersucht alles verliert, was er je geliebt hat: seinen besten Freund, seine Frau und zuletzt auch seinen Sohn.
Schauplatz Rio
Was den Autor für uns interessant macht: Seine Geschichten spielen in einem noch jungen Rio de Janeiro, als noch kein Bossa Nova erklang, als die Copacabana noch nicht von rassigen Fotomodels bevölkert war, als sich die Kriminalität noch in überschaubaren Grenzen bewegte und der damals schon publicitygeile Jetset noch auf Schiffe angewiesen war.
Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 6. Dezember 2007, 11:40 Uhr
Buch-Tipps
Machado de Assis, "Der geheime Grund. Erzählungen", Eichborn Verlag
Andreas Novy, "Brasilien: Die Unordnung der Peripherie. Von der Sklavenhaltergesellschaft zur Diktatur des Geldes", Promedia Verlag
Friedrich Edelmeyer, Bernd Hausberger, Barbara Potthost (Hg.), "Lateinamerika 1492-1850/70", Promedia Verlag