Über den Schlafneid
Nachtarbeit
Die Nacht war im Volksglauben seit alters die Zeit der Geister, Teufel und Gespenster. Das größte Schreckgespenst für Nachtarbeiterinnen und Nachtarbeiter ist der Schlaf. Davon kann auch Ö1 Klassiknachtmoderatorin Nicole Dietrich ein Lied singen.
8. April 2017, 21:58
Nicole Dietrich bei der Arbeit
Die Nacht beginnt am Tag und endet rund 20 Stunden später. Am späten Nachmittag versuche ich vorzuschlafen, das gelingt selten bis nie, denn der Körper ist reine Gegenwart, der lässt sich nichts vormachen, schon gar keine Zwangsschlafverordnungen wie im Kindergarten.
17:00 Uhr
Im Kern besteht so ein Nachtdienst aus der Vertreibung des Schlafs, an seinen zeitlichen Rändern aus der Beschwörung des Schlafs. Es ist ein von Selbstlügen, Tricks und bornierten Routinen bestimmter Kampf gegen den natürlichen Biorhythmus. Mein Körper will schlafen, meine Seele will träumen, mein Konto will Geld. Und die Nacht hat ihren Preis, eine eigene, paradoxe Struktur aus Stimmungsschwankungen, Halluzination und Konzentration, aus Freiraum und Einsamkeit, aus Schlafstörung und Pflichterfüllung, aus Stille und Musik.
21:00 Uhr
Zwischen neun und elf Uhr abends beschäftige ich mich mit meinem Selbstmitleid, schreibe Abschiedsbriefe an Geliebte, bin weltverbesserlich, formuliere Bewerbungen. Hätte ich doch etwas Gescheites gelernt. An Nachtarbeit klebt so etwas von Armut, Geheimnis, Ausgrenzung, so ein Stück Überlebensernst, aber auch Anarchie. In der U-Bahn starren mich vom Tag gehetzte Fratzen an, Obdachlose, Verrückte, Betrunkene, ein unbarmherziger Spiegel. Liebespaare und Theaterbesucher suhlen sich in Selbstgerechtigkeit. Diese Menschen haben Freunde und Gesellschaft, ich habe Arbeit.
Ich steige aus der U-Bahn aus, gegen halb Zwölf und es ist kalt, es ist dunkel, das Leben hat kein Erbarmen. Ein paar wenige Schattenwesen verlassen das Funkhaus während ich ins Studio gehe, vorbei an den Nachtportieren, den gesprächigen Herren vom Sicherheitsdienst, meine Schicksalsgenossen, deren nächtliche Solidaritätsbekundung auf ein genuscheltes "n ´abend" beschränkt bleibt.
22:30 Uhr
Ich nehme Platz im Cockpit, dem Studio, meinem Raumschiff. Der Innenraum ist hell erleuchtet. Ein Drehsessel unterm Hintern, 27 Regler vor mir, Digitalanzeigen, bunte Lichter, Bildschirme. Den Großteil all dieser Knöpfe nicht im falschen Moment zu berühren, wird die Kunst der folgenden Stunden ausmachen.
Draußen ist es stockfinster. Meine Stimmung wird besser. Die Klimaanlage läuft, ich wärme auf, sondiere die CDs, mit etwas Glück ist heute ein wenig 20. Jahrhundert darunter. - Vor mir das Display mit den beiden Uhren, knallrot, groß wie ein Federpennal. Mein Kompass in der Nacht. Die eine zählt hinauf, die andere hinunter, ein Countdown. Ich überwache den Lauf der Zeit in beide Richtungen, eigentlich eine ziemlich mächtige Position.
00:00 Uhr
Nachtdienst bedeutet: viel Tee kochen, CDs einlegen, Regler aufmachen und - vor allem: Zeit zählen. Dass die Nachrichten auf die Sekunde genau starten, dass das Musikstück auf Punkt endet, dass der Computer nicht abstürzt, die Stimme nicht versagt, der Papst nicht stirbt. Die Studiowände haben alles konserviert: Stoßgebete, Flüche, Adrenalin, Schweiß und Fahrlässigkeit, Versprecher und Fauxpas, viele Stimmen, wenig Geist. Nachtdienst ist also ein WACHdienst.
Meine Realität im Raumschiff ist: Allein sein. Inmitten des Weltalls aus Kabeln und Bildschirmen eine Hörerschaft imaginieren, die nicht da ist, Selbstgespräche führen, Schokolade essen, ins Internet starren. Ein Kollege hat mir geraten, vor offenem Fenster Gymnastik zu machen. Eine andere Kollegin - ja wir sind ziemlich viele Ö1 Gespenster im Schichtdienst - läuft bei akutem Müdigkeitsanfall schnell die Treppen rauf und runter während die CD spielt.
1:39 Uhr
Ich gehöre zur Gruppe der idiotisch Herumsitzenden, die Musik schleift oberflächlich mit, und ich verfalle. Die Zahlen verschwimmen, die Augen wandern nach innen, rote Lichter, weiße Lichter, ich drifte und drifte... 0:36, 0:35, 0:34. Ich bin wieder wach. Nächste Absage. Applaus wegblenden. So tun, als ob ich da wäre.
Anders als bei einem Bäcker, der seine nächtliche Produktivität in Brotlaiben und Semmeln aufwiegen kann, dreht sich in einer Radionacht vordergründig alles um die schöne Musik, hintergründig aber um ein wohl kalkuliertes Verstreichen der Zeit, um Präsenz statt Produkt. Die CD-Player spielen, ich lege ein und aus, sage an und ab. Ich agiere wie eine Greifzange mit aktiviertem Sprechorgan.
4:00 Uhr
Von zwei Dingen darf ich heftig abraten in der Nacht, nämlich Kaffee und Liebeskummer. Beides verträgt sich nicht mit Nachtarbeit. Das Koffein lässt dich wie die Erinnerung nach einer halben Stunde fallen. Die Abschiedsbriefe sind schon geschrieben. Dann bist du allein mit der Erschöpfung und der Leere. Und in der Nacht fallen, heißt, tief fallen.
Ein Rettungsfahrer kann mit seinem Kollegen tratschen, ein Taxler kann fernsehen, ein Zeitungskolporteur darf/muss rennen!
5:50 Uhr
Letzte Absage. Guten Morgen. Im Taxi regiert entweder Mundgeruch oder Wunderbaum. Er soll schneller fahren. Der Countdown läuft. Jetzt ist er wieder da, der Schlafneid. Der Geiz, dass ich zuwenig bekomme, von der kostbaren Nacht, dem süßen Schlaf. Wie gesagt, die Nacht beginnt am Tag und sie zieht sich länger als die Dunkelheit. In der Folgenacht werde ich in meinem Bett pünktlich um 2:59 aufwachen. Da folgen dann nämlich die Nachrichten. Und irgendetwas in mir zählt noch immer mit.
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