Biografie des "Moby Dick"-Autors

Melville

Es ist die große Leistung dieser Biografie von Andrew Delbanco, die Prägung des gegenwärtigen Amerika durch Ideen und Entwicklungen, die im 19. Jahrhundert ihren Ursprung haben, am Beispiel von Herman Melvilles Leben und Werk dargestellt zu haben.

Was für ein Stoff für eine Biografie: In Herman Melvilles Lebensspanne zwischen 1819 und 1891 fällt der Amerikanische Bürgerkrieg und damit der Kampf um die amerikanische Identität, die Entwicklung des Kapitalismus zum globalisierten Handel, die Industrialisierung mit den bekannten sozialen Folgen und das Offensichtlichwerden der gewaltigen Gegensätze zwischen Arm und Reich.

Die aufstrebende Weltmacht

Gleich das erste Faktum, mit dem Delbanco sein erstes Kapitel beginnt, macht klar, in welchem Rahmen Melville zu sehen ist. Als er 1819 in New York zur Welt kam, lebten ungefähr 100.000 Menschen in der Stadt, als er 1891 in ebenjenem New York starb, zählte die Stadt über drei Millionen Einwohner. Zwischen diesen Zahlen liegen der Bau der ersten Wolkenkratzer, die Erfindung des elektrischen Lichts, des Telefons und des Telegrafen, aber auch eine bis dahin einmalige Migrationswelle.

Am Anfang stand der Traum Melvilles von der amerikanischen Demokratie als Menschheitsutopie, am Ende stand die Resignation eines kaum gelesenen Schriftstellers und früheren Matrosen auf den Weltmeeren, eines kleinen New Yorker Zollbeamten, der in seinem Spätwerk schonungslos den romantischen Traum mit der politischen Realität von Machtpolitik konfrontierte.

Melville war Zeitgenosse Edgar Allen Poes und stand den sogenannten Transzendentalisten unter den amerikanischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts wie Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und auch Walt Whitman nahe. Das Kapitel über die widersprüchliche politische und intellektuelle Diskussion vor dem Bürgerkrieg gehört zu den stärksten der Melville-Biografie.

Das personifizierte Böse

An dieser Stelle muss der Name jenes Geschöpfs fallen, mit dem Melville für alle Zeiten verbunden sein wird: Moby Dick, der mythische weiße Wal, dem der verkrüppelte Kapitän Ahab in fanatischer Besessenheit nachjagt, um schließlich sich und seine Mannschaft in den Untergang zu treiben.

Durch klug ausgewählte Belege macht Delbancos Biografie deutlich, wie tief Jäger und Gejagter in das kollektive amerikanische Unterbewusstsein abgesunken sind - um regelmäßig wieder daraus aufzutauchen: in Form politischer Analogien zum Irakkrieg oder zum Terror des 11. September; als Beispiel für die Entstehung totalitärer Strukturen bei der vor Hitler nach Amerika geflüchteten Philosophin Hannah Arendt, als Beispiel für die Sündenbock-Funktion, mit Hilfe derer sich moderne Gesellschaften ihrer bösen Ahnungen entledigen, als Inbegriff des Bösen schlechthin, das einmal im Wal, einmal in Ahab identifiziert wird. Moby Dick wurde für ein amerikanisches Publikum zu einer Projektionsfläche, so weit wie das Meer, in dem der Wal sich versteckt hielt, um plötzlich aufzutauchen und zuzuschlagen.

Reisen in Südseeparadiese

Was für ein Stoff: Herman Melville war als junger Mann jahrelang auf verschiedenen Schiffen vor allem im Südpazifik unterwegs. Von diesen Reisen brachte er die lebendige Erinnerung an ein Südseeparadies mit, das ihm, als er es in Bücher goss, frühen allerdings vergänglichen Ruhm einbrachte: "Typee" und "Omoo" heißen diese frühen Romane, die in den 1840er Jahren geschrieben wurden.

Es ist ein entscheidender Vorteil dieser Biografie, die ausführliche Beschreibung der Melvillschen Werke weder ausschließlich aus seinem Innenleben abzuleiten, wofür es einige Gelegenheit gäbe, noch es einfach mit den Ideen und der politischen Wirklichkeit kurzzuschließen.

Am deutlichsten wird das an der Würdigung jener Erzählung, die in den letzten Lebensjahren Melvilles entstand, und der Delbanco zu Recht seine große Bewunderung zollt: "Billy Budd", die Geschichte vom unschuldigen, schönen Matrosen, der an Bord eines britischen Kriegsschiffes zur Zeit der Napoleonischen Kriege Opfer einer teuflischen Verschwörung wird und schließlich erhängt wird, ist Melvilles neben "Moby Dick" vielleicht vielschichtigstes Werk: eine einfache Story, in der alles drinsteckt: die Geschichte von sexueller Unschuld, gespiegelt in einem engelsgleichen Wesen, das zwischen einem Menschenrecht auf Solidarität und Verständnis und der Rechtsordnung zerrieben wird. Bis heute scheiden sich die Geister von humanistischen Utopisten und konservativen Wahrern des Rechts an dieser Geschichte.

Vorsichtige Rückschlüsse

Und Melville, der Mensch? Er kommt nicht zu kurz. Weder spart Delbanco das Kapitel Sexualität und künstlerische Arbeit aus, noch lässt er die Indizien für Melvilles homoerotische Neigungen unerwähnt, noch verschweigt er sein problematisches Eheleben, das trotz allem über Jahrzehnte währte. Aber da die Dokumente fehlen, Briefe, aus denen sich Eindeutiges herauslesen ließe, bleibt nur der vorsichtige Rückschluss aus einigen traumatischen Lebensdaten und aus den autobiografischen Projektionen in den Werken.

Er hat dafür gesorgt, dass der Mann, von dem wir in geschichtlichen Aufzeichnungen kaum einen Blick erhaschen, nie mit dem Genie in Deckung zu bringen sein wird, das wir in seinen Werken antreffen.

Trotzdem liefert Delbanco genügend Mosaiksteine, um sich ein Bild machen zu können von einem Autor, dessen beide Söhne unter erniedrigenden Umständen mit Anfang Zwanzig und Anfang Dreißig starben, der fast sein ganzes Leben lang unter Geldmangel litt, der die Missachtung eines Großteils seiner Bücher nur schwer verkraftete, dessen Frau ihm in rührender Zuneigung zugetan war; die es aber auch kaum verwand, dass ihr Mann sie und die kleinen Kinder wiederholt und für Monate in Amerika zurückließ, um seine Verbitterung und seinen Weltekel auf ausgedehnten Bildungsreisen nach Europa und in den Nahen Osten zu bekämpfen. Nathaniel Hawthorne, Melvilles besten Freund, zitierend meint Andrew Delbanco, er hoffe, seine Biografie vermittle ein "Heimatgefühl mit der Vergangenheit". Dies ist ihm ganz und gar gelungen.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Andrew Delbanco, "Melville. Biografie", aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Schmitz, Hanser Verlag