Verschärfung der Harmonik
Ralph Vaughan Williams
Ralph Vaughan Williams gilt als bedeutendste englische Symphoniker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit seinem Freund Gustav Holst beschäftigte er sich intensiv mit dem Sammeln und Veröffentlichen englischer Volkslieder.
8. April 2017, 21:58
Ausschnitt aus "Fantasia" und der Vorlage von Tallis
Ralph Vaughan Williams (1872 bis 1958) ist der bedeutendste englische Symphoniker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und prägt in dieser Zeit den englischen Nationalstil. Er wird als "Englischer Sibelius" bezeichnet, im bewussten Kontrast zur Zweiten Wiener Schule mit Schönberg, Berg und Webern.
Zusammen mit seinem Freund Gustav Holst beschäftigte er sich intensiv mit dem Sammeln und Veröffentlichen englischer Volkslieder ("Bushes and Briars", 1903) und entdeckte auch die englische Musik der Renaissance für sich. Beides beeinflusste seinen Kompositionsstil erheblich. Als Organist und Dirigent hatte er auch eine starke Affinität zur geistlichen Musik und zur Chormusik, auch das fand tiefen Widerhall in seinem Werk.
Irritierende Unbefangenheit
Mitunter ist die Unbefangenheit, mit der Vaughan Williams mit dem nationalen Erbe umgeht, irritierend. Die strengen Analytiker legen so ein Werk in die Schublade eklektische Musik, aber ich finde es ab und zu durchaus lohnend, diese andere Beleuchtung. Die Engländer haben es ja vielleicht leichter, mehrere Jahrhunderte einfach zu überspringen, weil zwischen Barock und Spätromantik im Vergleich zur kontinentaleuropäischen Musiktradition einfach eine große Lücke klafft. Da lässt es sich unbeschwerter an Tallis oder Byrd anknüpfen, es liegt buchstäblich nichts im Weg.
Modern ist Ralph Vaughan Williams nicht, ist auch gar nicht seine Absicht. Was er macht, ist eine Verschärfung der Harmonik, und eine Pointierung der musikalischen Linien, die den archaischen Charakter der Musik betonen, aber durch Steigerungen und effektiv platzierte Kontrastwirkungen einen stärker emotionalen Zugang ermöglichen als die strenge Objektivität der alten Meister.
Ralph Vaughan Williams' Kompositionen erschließen weniger neue als vielmehr alte Musikwelten. Man muss die großen englischen Kathedralen quasi mithören, um seine Musik richtig aufzunehmen.
Schüler von Bruch und Ravel
"Ich habe so viel Musik in meinem Kopf, dass ich weiß, ich werde nie die Zeit haben, sie niederzuschreiben", so Ralph Vaughan Williams einmal. Vaughan Williams wurde am 12. Oktober 1872 im englischen Down Ampney geboren. Er studierte Komposition in Cambridge, Berlin und Paris, unter anderem bei Max Bruch und Maurice Ravel.
Er war in London als Organist tätig, bald schon setzte seine intensive Sammlertätigkeit ein, neben den englischen Volksliedern gab er ein auch neues Kirchengesangbuch heraus "The English Hymnal".
Orchesterwerke, Opern, Filmmusiken
1919 nahm er eine Professur für Komposition am Londoner Royal College of Music an, ein Jahr später wurde er zusätzlich Dirigent des dortigen Bach-Chores. Im Jahr 1910 kam seine erste von insgesamt neun Symphonien mit dem Titel "Sea Symphony" zur Aufführung. Sein kompositorisches Schaffen umfasst zahlreiche Orchesterwerke, Opern und Vokalwerke, und Filmmusiken.
Vaughan Williams starb vor 50 Jahren, am 26. August 1958 in London, im Alter von 86 Jahren. Sein erstes großes Meisterwerk war die "Fantasia on a Theme by Thomas Tallis" aus dem Jahre 1910. In ihr sind schon alle künftigen sinfonischen Leistungen in nuce enthalten. In diesem Stück kommen deutlich die Einflüsse seiner französischen und deutschen Lehrer zum Ausdruck. Die kontrapunktischen Studien in Berlin und sein eigenes starkes Interesse an der Musik der Tudor-Zeit verbinden sich mit der Klangsensibilität und der ebenso raffinierten wie feinen Orchesterbehandlung, die er bei Maurice Ravel kennen lernte.
Schlauer Kunstgriff
Die "Fantasia" beginnt mit einem ganz kurzen zweitaktigen Vorspiel, quasi ein musikalischer Fingerabdruck (erster Teil unseres Audios). Ein schlauer Kunstgriff. Mit einem Schlag hat uns Vaughan Williams mit diesem Motto innerhalb von 20 Sekunden in eine würdevolle Stimmung versetzt, wir werden neugierig gemacht auf eine Art Geheimnis.
Das Geheimnis ist der rote Faden, die Liedmelodie, sie stammt von Thomas Tallis, dem Lehrer William Byrds. Tallis hatte sie im Jahre 1567 für den Psalter des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury, Matthew Parker, komponiert. Und Vaughan William hatte diese Melodie, die dritte Psalmenmelodie von insgesamt neun, in seine Edition des Englischen Gesangbuchs, des "English Hymnal" aufgenommen: "Why fum’th in fight" - "Warum toben die Heiden und murren die Völker vergeblich? Die Könige der Erde lehnen sich auf, und die Herren halten Rat miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten." Hören sie dazu den zweiten Teil unseres Audios.
Reihe von Variationen
Auf diese dritte neunstimmige Psalmenmelodie von Thomas Tallis greift Vaughan Williams zurück und schreibt eine Reihe von Variationen darüber, die aufeinander aufbauen und sich entwickeln. Er schreibt für die Besetzung eines doppelten Streichorchesters und Streichquartetts, also auch besetzungsmäßig an die Doppelchörigkeit der Renaissance erinnernd.
Wenn die Psalmenmelodie zum ersten Mal vollständig auftritt, tut sie das im ursprünglichen neunstimmigen Satz von Tallis (dritter Teil des Audios).
Hör-Tipp
Ausgewählt, jeden Mittwoch, 10:05 Uhr
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