Lexikon-Philosophie in der Secession
Gilles Deleuzes Abecedarium
Die Secession zeigt am 9. Jänner 2008 Ausschnitte aus dem einzigen Filmdokument des französischen Postmodernisten Gilles Deleuze. Einen Einführungsvortrag hält der Wiener Schriftsteller und Filmwissenschafter Thomas Ballhausen.
8. April 2017, 21:58
Einem der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts beim Denken zuzusehen - das ermöglicht ein achtstündiges Filmdokument mit dem Titel "L'abécédaire de Gilles Deleuze". In seiner Pariser Wohnung nahe der Place Clichy gab der französische Postmodernist im Alter von 64 Jahren sein einziges Fernsehinterview. Ein Dokument, das, so der Schriftsteller und Filmwissenschafter Thomas Ballhausen, nicht zuletzt veranschauliche, "wie gut Philosophie für jemanden sein" könne.
Mit sanfter Stimme, heiterem Gesicht, weißem Haar und langen, eingerollten Fingernägeln - Zeichen seiner Weigerung, seine Konturen gesellschaftlichen Normvorstellungen zu unterwerfen - zeigt sich Gilles Deleuze.
Lexikalischer Spaziergang
In französischer Originalfassung mit deutscher Simultanübersetzung wird "L'abécédaire de Gilles Deleuze" am 9. Jänner in der Secession gezeigt. Das Videogramm ist, so Thomas Ballhausen, "ein Versuch im Rahmen eines Abecedariums durch das Werk von Deleuze zu spazieren - anhand von wesentlichen Begriffen und Namen seine philosophische Arbeit nachzuzeichnen".
A wie "Animal", I wie "Idee", R wie "Résistance", T wie "Tennis" oder W wie "Wittgenstein" lauten die lexikalischen Themenvorgaben. Die Fragen dazu stellt die Journalistin Claire Parnet, Deleuzes ehemalige Schülerin und damalige Lebensgefährtin. Einen Buchstaben des Abecedariums widmet sie dem Begriff der Frage selbst.
Q, c'est Question
"Was unterscheidet eine Frage in den Medien von einer Frage in der Philosophie?", lautet Parnets erste Frage.
Hier sei, so Deleuze, ganz grundlegend zu unterscheiden. Denn im Fernsehen würden - auch in seriösen Formaten - keinerlei Fragen im philosophischen Sinn gestellt, sondern Befragungen durchgeführt. "Die Frage 'Was denken Sie von diesem und jenem?' wirft doch kein Problem auf - sie holt eine Meinung ein. In den Medien herrscht ja ein regelrechter Konsens, der darin besteht, die großen Fragen durch simple Befragungen zu ersetzen."
Seine Abneigung gegen Fernsehauftritte überwand Gilles Deleuze nur unter der Bedingung, dass das "Abecedarium" erst posthum veröffentlicht werden durfte. 1996, ein Jahr nach Deleuzes Freitod, wurde das achtstündige Gespräch erstmals ausgestrahlt. Für die Vorführung in der Secession wählte Thomas Ballhausen drei Abschnitte daraus aus. Nächster Buchstabe:
L - wie Literatur
"Die Literatur, das ist ein sehr knapper Punkt in den Arbeiten, aber es wird deutlich, dass es ein Philosoph ist, der die Literatur ernst nimmt - das fand ich einfach großartig", begründet Ballhausen seine Auswahl.
Claire Parnets Vermutung, er schöpfe neue Gedanken häufiger durch die Literatur als durch die Philosophiegeschichte, gibt Deleuze recht. Die großen Figuren der Literatur seien, so der der Philosoph, auch große Denker. "Ich habe in letzter Zeit vieles von Melville wiedergelesen. Es steht außer Frage, dass Kapitän Ahab ein großer Denker ist. Ich sehe viele Gemeinsamkeiten zwischen der Erschaffung einer großen Figur und der eines philosophischen Konzepts. Auch Plato und Nietzsche haben bekanntlich Figuren erschaffen. Und dann gibt es einen Punkt, wo man zwischen Figur und Konzept nicht mehr so ganz unterscheiden kann - das sind vielleicht die schönsten Momente."
Konzepte-Schöpfer
Die Philosophie sieht Deleuze als jenen kreativen Akt, aus dem die Konzepte hervorgehen. Von jenem von Robert Musil entworfenen, tyrannischen Philosophen, der sich denkend die Welt unterwerfen will, ist er weit entfernt. Der Linearität setzt er Fluchtlinien entgegen - dem Essentialismus die Instabilität des Realen.
Platos hierarchischem Baum des Wissens zieht er die Flächigkeit der Wiese und der Luftwurzel vor. Und für seine persönliche Denkensart findet Deleuze zum Abschluss einen denkbar unprätentiösen Vergleich: Die Flugbahn einer Zimmerfliege. Letzter Buchstabe:
Z - wie Zickzack
"Die Zickzack-Bewegung", meint Thomas Ballhausen, "ist sicher eine, die dem Deleuze'schen Denken genau entspricht - die Idee besteht darin, dass man das Chaos als Element des Philosophischen versteht, und dass man sich in dieses Element hineinstürzt, um Philosophie betreiben zu können. Es gibt sozusagen kein Denken außerhalb des Zickzack."
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Leporello, Montag bis Freitag, 7:52 Uhr
Veranstaltungs-Tipp
L'abécédaire de Gilles Deleuze, Mittwoch, 9. Januar 2008, 19:00 Uhr, Secession
Links
Secession
Wayne State University - Das ABC von Gilles Deleuze mit Claire Parnet