Unerwartete Nominierungen
Kammermusik
Am 30. Jänner werden die MIDEM Classical Awards verliehen. Ö1 saß in der Jury. Aber: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. In der Kategorie Kammermusik haben es just drei CDs ins Finale geschafft, die Albert Hosp nie nominiert hätte.
8. April 2017, 21:58
Als Juror der Kategorie Kammermusik konnte ich mich in den letzten Monaten durch eine Fülle von CDs durchhören: Die Spannweite reichte dabei von Barocksonaten mit der hervorragenden Helene Schmitt (bei ALPHA) bis zu einer Hommage an die Soundtracks der Nouvelle Vague (bei NAIVE). Mit großer Hörfreude konnte ich letztendlich einige Favoriten auswählen und für die nächsten Runden empfehlen. Keine einzige davon hat es jedoch auch nur bis ins Halbfinale geschafft.
Um unter den vielen ausgeschiedenen Nominierungen noch schnell meinen persönlichen Favoriten zu nennen: Das Junge Dänische Streichquartett widmet sich beim label BIS den Werken von Carl Nielsen. Hier sind vier junge Musiker (allesamt nach 1980 geboren) am Werk, als wäre es gewissermaßen das letzte Mal, dass sie ihre Instrumente spielen dürften: So feurig, so leidenschaftlich erklingen die - bei uns viel zuwenig geschätzten - Quartette und ein Quintett von Nielsen, als wäre die Tinte auf der Partitur noch nicht trocken. Als leuchtendes Vorbild könnte ihm Schubert gedient haben, und von diesen Künstlern einmal auch Schubert zu hören, wäre herrlich. Einstweilen aber ist Nielsen vollauf genug.
Labels enttäuschen
Nachdenklich macht mich auch, dass sich manche - und nicht die kleinsten Firmen - überhaupt keine Produktionen eingesandt haben. So hat sich etwa Universal Classics (unter deren Dach sich immerhin Deutsche Gramophon, Decca, Philips etc. befinden) völlig aus dem Bewerb herausgehalten.
Und jetzt aber zu den offiziell für den Kammermusik-Preis der MIDEM nominierten Produktionen.
Tolle Künstler am straffen Zügel
Vorausgeschickt: Das Artemis-Quartett gehört für mich zu den weltweit besten Streichquartetten. Ich hatte das Vergnügen, mit ihm einmal ein ganzes Konzert moderierend zu erleben. Die eine Dame und drei Herren verfügen über das, was ein echtes Spitzenensemble ausmacht: Absolute technische Souveränität, die nie zum Selbstzweck wird, sondern zum Ausloten extremer Klangereignisse genutzt wird; dazu noch die richtige Dosis musikantischer Lust, die auch noch das strengste Werk mitreißend erlebbar macht.
Auch Leif Ove Andsnes durfte ich einmal persönlich kennenlernen, als Gast der Sendung Ausgewählt. Andsnes ist ein zurückhaltender, höflicher Mensch, dem trotzdem der Schalk aus den Augen lacht; seine Interpretationen zeichnen sich durch besondere warmherzige Leidenschaft aus. Warum nur ist dann gerade diese Zusammenarbeit, noch dazu mit zwei Klavierquintetten allererster Güte (Schumann & Brahms), so seltsam unbefriedigend? Warum spielen die fünf etwa den Anfang des "In modo d'una marcia" - so scheinbar distanziert? Warum brennen die Scherzi nicht so lodernd, wie es von den Ausführenden zweifellos zu erwarten wäre? Ich weiß es nicht. Hier wird womöglich mit ein wenig zu straff angezogenen Zügeln gespielt; und der etwas schwammige Aufnahmeklang dient der Sache auch nicht gerade.
Mein Tipp: Wenn schon Andsnes mit Schumann, dann seine Duo-CD mit dem großartigen Cellisten Truls Mork (Simax PSC 1063). Wenn schon das Artemis Quartett mit Brahms, dann zum Beispiel das heißblütig gespielte op.51/2 (Ars Musici AM 12972).
Beethoven mit zuviel Siegeswillen
Wie lässt es sich am unübersichtlichen und gleichzeitig nicht gerade florierenden Klassikmarkt glänzen? Indem man Gesamteditionen anbietet: Der komplette Mozart, alles von Bach, alles von Haydn, oder wenigstens alle Symphonien von Mahler, Schön aufgemacht, also mit aufwändigem Booklet versehen, lassen sich solche Packages angeblich recht gut verkaufen. Das betrifft natürlich auch einzelne Genre-Editionen. Im vorliegenden Fall wurden die zehn Sonaten für Klavier und Violine von Beethoven zu einem repräsentativen und im noblen Schwarzweiß gehaltenen Packerl gebunden.
Corey Cervosek, 1972 in Kanada geborener Geiger mit Wohnsitz in Paris, und der finnische Pianist Paavali Jumppanen (Jahrgang 1974) nahmen sich vergleichsweise luxuriöse 15 Tage Zeit, um die Sonaten in der Salle de Musique im Schweizer La Chaux-de-Fonds aufzunehmen. Ich höre hier: Einen Geiger mit Lust an der Virtuosität, mit leider viel zu gleichförmigen Vibrato, mit starkem Ausdruck, der ab und zu direkt nach Siegeswillen klingt. Das führt dann bei den Stellen, in denen die Violine einfach nur begleiten soll, zu fast schon grotesken und jedenfalls dick aufgetragenen Ergebnissen.
Um das ganze noch schlimmer zu machen, befindet sich das Klavier auch noch aufnahmetechnisch eher im Hintergrund. Dabei verfügt gerade Pianist Jumppanen über eine Farbpalette, von der ich gerne viel mehr genießen würde. Wenn etwa in den langsamen Sätzen (vor allem den Variationswerken) das Klavier allein beginnt, dann öffnet sich ein Klangraum, indem viel möglich wäre.
Lieder auf Zehenspitzen
Der Gesang ihres Vaters hat Kim Kashkashian geprägt. Von ihren ersten Versuchen, die Violine zum Klingen zu bringen, bis in ihre Weltkarriere als Viola-Spielerin, habe sie jene Stimme in ihre Klangvorstellungen einbezogen, erzählt Kashkashian im Beipacktext. Diese CD nun bringt 26 Lieder aus Spanien und Argentinien, deren sämtliche Texte auch abgedruckt sind, obwohl (oder gerade weil) hier niemand singt.
Kashkashian gesteht ihrer Viola zu, einen recht beeindruckenden Klangreichtum zu entfalten: Vor allem die Schattierungen der Lautstärke gehen bei ihr weit über das hinaus, was noch immer viel zu viele Produktionen kennzeichnet (leise - mittel - laut). Die Künstlerin spielt sich vom flüsternden pianissimo possibile (gewissermaßen auf Zehenspitzen) bis ins herzhafte fortissimo. Dem Pianisten Robert Levin kommt bei den allermeisten Stücken kaum mehr als Begleitfunktion zu.
Risikofreies Spiel
Was mir hier abgeht? Das Heisere, das Unschöne, ja das Hässliche - kurz, alle Eigenschaften, die den Ausdruck eines Liedes erst komplett "menschlich" machen. In diesem Mangel spiegelt sich zusammenfassend meine Enttäuschung über die Nominierungen wieder: In keiner der dreien geht es auch nur einmal ins Extreme; nirgendwo werden Grenzen ausgelotet; immer geht es darum, das Spiel risikofrei zu halten.
Soll mich Musik überzeugen, soll mich ihre Interpretation bezwingen, dann muss das Sicherheitsnetz namens "schön spielen" auch einmal zerrissen werden.
Mehr dazu in oe1.ORF.at
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Hör-Tipps
Ausgewählt, Mittwoch, 23. Jänner und Mittwoch, 30. Jänner 2008, 10:05 Uhr
CD-Tipps
Schumann, Brahms, "Piano Quintets", Artemis Quartett, Leif Ove Andsnes, Virgin Classics
Chopin, Schumann, Cellosonaten, Truls Mork, Leif Ove Andsnes, Simax
Brahms, Verdi, Streichquartette, Artemis Quartett, Ars Musici
Beethoven, "The Violin Sonatas", Corey Cerovsek, Paavali Jumppanen, Claves
"Songs from Spain and Argentina", Kim Kashkashian, Robert Levin, ECM