Resignation und Selbstaufgabe
Unterschicht
Immer mehr Kulturwissenschafter vertreten die These, dass die relativ kurze Periode von breiter Beschäftigung und sozialer Absicherung im 20. Jahrhunderts derzeit von einem Modell abgelöst wird, das kennzeichnend war für die vormodernen Gesellschaften.
8. April 2017, 21:58
Im neoliberalen, postfordistischen Wirtschaftssystem des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat sich ein Gesellschaftsmodell fest verankert, das geprägt ist durch Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsmärkte und die Auflösung sozialer Sicherheitsnetze.
Das Resultat der aktuellen Veränderungen ist eine "neue Armut". Mehr als 400.000 Menschen in Österreich leben in Armut, das sind rund fünf Prozent der Bevölkerung. Etwa eine Million ist armutsgefährdet. Das bedeutet, ihr Einkommen liegt unter der Armutsgrenze.
Das "abgehängte Prekariat"
Eine im vergangenen Jahr von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Deutschland publizierte Studie belegt, dass acht Prozent der Bevölkerung in Deutschland zum "abgehängten Prekariat" zählen. Als "abgehängtes Prekariat" ist in dieser Studie die unterste Sozialkategorie bezeichnet.
Kennzeichnend für diese gesellschaftliche Gruppe ist laut der Studie eine "grundlegende Existenzunsicherheit". Das heißt, zu Arbeitslosigkeit oder geringfügiger Beschäftigung und unterschiedlichsten sozialen Problemen kommt die Überzeugung, sich nicht mehr aus eigener Kraft aus dieser Situation befreien zu können.
Resignation und völlige persönliche Aufgabe seien für das "abgehängte Prekariat" kennzeichnend. Das bedeutet, dass es eine anwachsende Zahl von Menschen in der Gesellschaft gibt, die von gesellschaftlicher Teilhabe über Arbeit ausgeschlossen sind oder kaum Zugang finden.
Armut als individuelles Schicksal
Kennzeichnend für die heutigen Erwerbsbiografien sind Kurzfristigkeit und Unsicherheit. Sogenannte "McJobs" prägen für immer mehr Menschen den Arbeitsalltag. Viele können von einem Job allein nicht mehr leben, doch auch zwei oder drei Jobs nebeneinander sind keine Garantie, aus der Spirale der Armut zu gelangen.
Gesicherte Erwerbsbiografien scheinen in den kommenden Jahrzehnten die Ausnahme zu werden. Die Armut wird jedoch im Unterschied zum 19. Jahrhundert zunehmend als individuelles Schicksal gesehen.
Noch immer herrschen bei uns Armutsbilder vor, die dem 19. und 20. Jahrhundert entstammen. Es müsse zu einem veränderten Bewusstsein von Armut kommen, das ist das Plädoyer des Kulturwissenschafters Lutz Musner. Denn die "neue Armut" erfordere auch eine neue Rhetorik in Politik und Gesellschaft.
Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 24. Jänner 2008, 19:05 Uhr
Buch-Tipp
Rolf Lindner, Lutz Musner (Hrsg.) "Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der 'Armen' in Geschichte und Gegenwart", Rombach-Verlag
Link
Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften