First Recordings

Ersteinspielungen

Bei der Musikmesse MIDEM in Cannes wird der MIDEM Classical Award verliehen. Erstmals war die Ö1 Musikredaktion Teil der Jury. Das Niveau der eingereichten Erstaufnahmen ist zu einem großen Teil hervorragend, befindet Hans Georg Nicklaus.

Insgesamt dominieren bei den Erstaufnahmen die Spezialisten für die sogenannte Alte Musik beziehungsweise historische Aufführungspraxis. Im ersten Moment mag das überraschen, bei genauerer Betrachtung ist es aber doch verständlich: Das "Ausgraben" bisher wenig bekannter und nicht aufgenommener Werke ist einfach das Geschäft der Spezialisten für die Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts.

So verwundert es nicht, dass zwei der drei Favoriten für den MIDEM Award in der Kategorie First Recordings aus dem Bereich der Alten Musik kommen. Das Niveau der Einspielungen ist sehr unterschiedlich, zu einem sehr großen Teil aber hervorragend. Bei den musikalischen Entdeckungen überflügelt allerdings manchmal der Pioniergeist den musikalischen Geschmack.

Französischer Barock, oft unterschätzt

Eine Bereicherung des CD-Marktes ist sicherlich die Aufnahme von André Cardinal Destouches' Oper (genauer gesagt: Tragédie lyrique) "Callirhoé". Es war - so belehrt das ausführliche Booklet - die letzte Tragédie lyrique zu Lebzeiten Ludwig des XIV (Uraufführung 1712), ohne den diese besondere französische Epoche der Oper wohl kaum hätte gedeihen können. Noch heute wird die französische Barockoper aufgrund ihrer Abhängigkeit vom "Sonnenkönigtum" argwöhnisch, ja ablehnend betrachtet (von Nikolaus Harnoncourt zum Beispiel).

Aus musikalischer Sicht sicherlich zu Unrecht: Destouches gehört zu jener Komponistengeneration, die in Frankreich nach dem großen Lully die Tradition der französischen Musiktheaters fortsetzte: mit viel Tanz und Chor und jener für die französischen Oper typischen Gesangsästhetik, die für heutige Ohren wie eine Mischung aus Rezitativ und Arie klingt. Die Solisten sowie Chor und Orchester von Le Concert Spirituel unter der Leitung von Hervé Niquet musizieren in dieser bei Glossa erschienenen Aufnahme durchwegs hervorragend - kenntnisreich (etwa in Bezug auf Metrik und die spezielle Gesangstechnik dieser Musik) und musikalisch überzeugend.

Fux - unglaublich gut musiziert

Ebenso verdienstvoll und zugleich von höchster spieltechnischer Qualität ist die Aufnahme von Orchesterstücken (Ouvertüre, Suite, Intrada, Concerto) des österreichischen Komponisten und Musiktheoretikers Johann Joseph Fux (bei Carus). Freilich sind die Tanzsätze Fux' nicht immer von höchster musikalischer Dichte. Das liegt aber auch am Genre der barocken Suite.

Allerdings hat man den Eindruck, das unglaublich perfekt und engagiert musizierende Freiburger Barockorchester, geleitet von Gottfried von der Goltz, holt auch aus jedem noch so beiläufig erscheinenden "Menuettchen" das Optimale heraus. Jede kompositorische Raffinesse (in Harmonik oder Rhythmik) wird sorgsam und technisch perfekt hörbar gemacht. Vielleicht hätte sich Fux selber gewundert, was da alles in seinen Werken steckt...

"Britten on Film" im falschen Medium

Eine Nominierung, in der für mich der Pioniergeist, die Gier nach Raritäten und die Frage nach Qualität überflügelt hat: Die CD (bei NMC Recordings) enthält Musik, die der junge Benjamin Britten Mitte der 1930er Jahre für die staatliche GPO Film Unit komponiert hat. Es handelt sich um Dokumentarfilme, etwa zur Neueröffnung und Elektrifizierung einer Neuen Bahnverbindung, der sogenannten "Southern Railway" (im Film "The Way to the sea", 1936), oder zum Leben der Bergarbeiter im United Kingdom (im Film: "Coal Face", 1935).

Bei manchen der Filme war Britten nicht nur für die Titelmusik und etliche musikalische "Untermalungen" zuständig, sondern auch für Geräusche, also für das Sounddesign der Filme. Hervorgehoben wird die Zusammenarbeit zwischen Britten und W.H. Auden, der als Autor von der GPO immer wieder herangezogen wurde.

Banal und kitschig
Kurz gesagt: die CD versammelt filmische Schätze auf dem falschen Medium. Die Musik Brittens wirkt ohne Bild oftmals banal, kitschig oder einfach sinnlos. Kaum finden sich Stücke, die als selbständige Filmmusik - in der ein Stück der Filmhandlung oder der Charaktere musikalisch interpretiert werden - bestehen kann. Man fragt sich: Wie ernst hat Britten selbst diese Aufträge genommen?

Die Ausführung der Birmingham Contemporary Music Group unter der Leitung von Martyn Brabbins ist sorgfältig, lässt aber den Wunsch nach den dazugehörigen Bildern nicht schwächer werden. Am überzeugendsten ist diese CD dort, wo der dokumentarische Text gesprochen wird (von Simon Russell Beale) und die sehr illustrative Musik Brittens dazu erklingt.

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Hör-Tipps
Ausgewählt, Mittwoch, 30. Jänner 2008, 10:05 Uhr

CD-Tipps
André Cardinal Destouches, "Callirhoé", Le Concert Spirituel, Hervé Niquet, Glossa

Johann Joseph Fux, "La Grandezza della Musica Imperiale, Freiburger Barockorchester, Gottfried von der Goltz, Carus

Benjamin Britten, "Britten on Film", Birmingham Contemporary Music Group, Martyn Brabbins, NMC Recordings

Link
MIDEM Classical Awards - Nominees (Pdf, englisch)