Ein Kunstlexikon der anderen Art
Wem hat van Gogh sein Ohr geschenkt?
Mit "Jemandem sein Ohr schenken" ist gewöhnlich gemeint, dass man jemandem zuhört. Dieser Begriff kann aber auch durchaus wörtlich verstanden werden, wie Nora und Stefan Koldehoff mit ihrem neuen Kunstlexikon beweisen.
8. April 2017, 21:58
Mit einem gewöhnlichen Kunstlexikon ist das aktuelle Werk der beiden Autoren Nora und Stefan Koldehoff nicht zu vergleichen. Das Buch will uns vielmehr die weniger bekannten Abgründe und Absurditäten der Kunstwelt näher bringen. Während sich andere Kunsthistoriker auf bestimmte Epochen oder Stile spezialisieren, widmet sich das Autorenpaar profaneren Problemen wie etwa der Frage nach dem geeigneten Fluchtwagen für einen Kunstdiebstahl:
Wer ein wertvolles Bild stiehlt, muss sofort einige Probleme lösen. Dazu zählt nicht nur die Frage: Wer kauft mir die Beute überhaupt ab, sondern erst einmal: Wie komme ich mit dem guten Stück überhaupt weg von hier? Die meisten Diebe wollen sich in diesem Punkt nicht mit Stilfragen aufhalten. Natürlich wäre es eleganter, den Vermeer mit einem Rolls Royce abzutransportieren, hätte es mehr Charme, in einer "Ente" samt Renoir auf der Autobahn gen Süden zu verschwinden. Die meisten Diebe lieben es aber offenbar praktisch und greifen deswegen gerne zu Autos aus der Volkswagen-Gruppe: Wenn es schnell gehen soll, wird ein großer Audi genommen, geht es eher um Unauffälligkeit, kommen Golf oder Passat zum Einsatz.
Tipps für den Smalltalk
Auch sonst hält das ungewöhnliche Lexikon einige interessante Details bereit: Die Stile Expressionismus, Naturalismus und Surrealismus dürften hinlänglich bekannt sein. Um beim nächsten Smalltalk mit Kunstexperten zu beeindrucken, wird die Lektüre des Kapitels "Ismen in einem Satz" empfohlen, das auch seltenere künstlerische Spielarten kurz präsentiert. So erfährt man, dass der Intimismus eine Spielart des späten Impressionismus ist, "die sich auf die Darstellung von Interieurs und Familienszenen konzentriert", oder etwa, dass die Anhänger des Synchromismus der Auffassung sind, dass die Farbe allein genügt, um ein Kunstwerk zu schaffen.
Fatale Reinlichkeit
Ein großer Teil des Buches ist der dunklen Seite des Kunstbetriebs gewidmet: Zerstörung und Diebstahl, Wucher und Betrug. Verpackt in kleine, leicht verdauliche Häppchen erfährt man so etwa einiges über die Gefährlichkeit von Kaugummi für Gemälde, dumm gelaufene Kunsttransporte oder verhängnisvolle Irrtümer wie den folgenden:
Eigentlich tat Emmanuel Asare nur seinen Job, als er am 17. Oktober 2001 die Eyestorm Gallery im Londoner Westend betrat. Am Abend zuvor war hier die neue Ausstellung des Brit-Pop-Stars Damien Hirst, "Painting by numbers", eröffnet worden und entsprechend sah es auch aus: Überall standen und lagen volle Aschenbecher, halbleere Kaffeetassen, leere Bierflaschen, farbverschmierte Zeitungen und Magazine, Bonbonpapiere und Coladosen. Also krempelte der Angestellte einer Reinigungsfirma die Ärmel hoch und tat, wofür er bezahlt wurde: Er stopfte alles, was er fand, in Müllsäcke und versenkte sie im Abfallcontainer.
Unschwer zu erraten, dass die wiederhergestellte Ordnung bei den Galeristen nicht auf Gegenliebe stieß, handelte es sich doch bei dem vermeintlichen "Müll" um eine spontane Installation Damien Hirsts. Der Künstler selbst reagierte auf die ungewollte Demontage seines Werks jedoch amüsiert: "Fantastisch. Sehr lustig", ist sein überlieferter Kommentar.
Meister der Fälschung
Neben beabsichtigtem und unbeabsichtigtem Vandalismus sind auch Kunstfälschungen ein Thema, dem viel Raum gegeben wird. Die Autoren begeben sich auf die Spur von Meisterfälschern wie etwa Konrad Kujau, dem Fälscher der Hitler-Tagebücher. Im Gegensatz zum reinen Kopieren von Kunstwerken geht die Kunstfälschung immer mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen einher. Zur besonderen Meisterschaft in dieser Disziplin hat es der Brite John Myatt gebracht. Er fälschte zwischen 1985 und 1995 Werke im Stil von Chagall, Giacometti und Matisse.
Sein Komplize, John Drew, legte sich eigens einen falschen Doktortitel zu, um Zutritt zu den Archiven angesehener britischer Museen zu bekommen. Dort schmuggelte er gefälschte Dokumente in die Registraturen, die belegen sollten, dass sich Myatts Produkte - als Originale - leihweise in der Tate Gallery, dem Victoria & Albert Museum oder dem Institute of Contemporary Art befunden hätten. Als er die gefälschten Bilder dann bei Auktionshäusern und Galeristen in London zum Kauf anbot, konnte er deren Anfragen bei den Museen ganz gelassen abwarten. Tatsächlich kam bald die Bestätigung, das Bild sei schon einmal ausgestellt gewesen, müsse also zweifelsohne echt sein.
Nische im Literaturbetrieb
"Aktenzeichen Kunst. Die spektakulärsten Kunstdiebstähle der Welt" und "Van Gogh. Mythos und Wirklichkeit" heißen die beiden Vorgängerwerke des Autorenpaares Nora und Stefan Koldehoff. Die Autorin und der frühere stellvertretende Chefredakteur des Kunstmagazins "art" scheinen ihre Nische im Literaturbetrieb gefunden zu haben - Mythen, Anekdoten und Verbrechen des Kunstbetriebs zu sammeln, sorgfältig zu recherchieren und in eingängiger unterhaltsamer Form an die Leserschaft zu bringen.
Die Absurditäten der Kunstwelt
So ist auch das aktuelle Buch "Wem hat van Gogh sein Ohr geschenkt?" vor allem für jene geeignet, die einen unterhaltsamen, aber keineswegs oberflächlichen Einblick in die Absurditäten der Kunstwelt suchen, wie die Geschichte des Titel gebenden Ohres zeigt:
Die Nachricht, die eine französische Journalistin im Sommer 2002 vermeldete, klang sofort nach Sensation. Auf dem Speicher eines Hauses im südfranzösischen Arles, so hieß es, sei in einem Einmachglas das Ohr gefunden worden, das sich Vincent van Gogh im Dezember 1888 mit einem Rasiermesser abgeschnitten habe. Eine Mitarbeiterin des Auktionshauses Sotheby's habe das Ohr zufällig gefunden, als sie Kunstgegenstände in einem alten Bauernhof begutachtete. Der Vater des jetzigen Besitzers, ein Bauer namens Ambroise L'Aube, habe in seinem Tagebuch beschrieben, wie er das noch blutige Körperteil eines Tages auf einem Feld neben einem halb aufgegessenen Baguette und einer leeren Flasche Absinth gefunden habe.
Original oder Fälschung? Auf jeden Fall eine amüsante Geschichte. Bleibt jedoch hinzuzufügen, dass die Frage "Wem hat Van Gogh sein Ohr geschenkt?" mehr als eine Antwort hat.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Nora und Stefan Koldehoff, "Wem hat van Gogh sein Ohr geschenkt? Alles, was Sie über Kunst nicht wissen", Verlag Eichborn