Eine Nachbarschaft auf Spurensuche

Adresse: Servitengasse

Heutige Bewohner der Wiener Servitengasse haben sich vor ein paar Jahren auf die Suche nach jenen Bewohnern gemacht, die vor 1938 in dieser Gasse gewohnt hatten. Herausgegeben haben die gesammelten Recherchen Maria Fritsche und Birgit Johler.

Das Grätzl rund um die Servitengasse in Wien-Alsergrund ist das, was man eine "bessere Gegend" nennt. Man wohnt hier, unweit der Berggasse und der Porzellangasse, ruhig und doch zentrumsnah. Das können sich - nicht anders als zur Zeit der Jahrhundertwende - auch heute vor allem Angehörige des gehobenen Mittelstands leisten, Freiberufler, Kaufleute, überdurchschnittlich viele Akademiker.

Das Schicksal der vertriebenen Nachbarn erforschen

Im März 1938, als die Nazis die Macht in Österreich übernahmen, lebten in Wien 206.000 Jüdinnen und Juden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es gerade noch 5.000. In der Servitengasse hatten sich seit der Gründerzeit vor allem Angehörige der jüdischen Mittelschicht niedergelassen. 55 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner der Gasse im Frühjahr 1938 waren jüdischer Herkunft.

Sechseinhalb Jahrzehnte nach dem sogenannten "Anschluss", 2004, konstituierte sich eine Gruppe engagierter Anrainer zur Bürgerinitiative "Servitengasse 1938". Man wollte das Schicksal der vertriebenen Nachbarn erforschen, eine in Österreich bis dato einzigartige Initiative, die den ermordeten und vertriebenen Bewohnern von einst zumindest symbolisch einen Platz in ihrem ehemaligen Lebensumfeld wiedergeben sollte. Zusammen mit professionellen Historikerinnen wie Birgit Johler und Maria Fritsche haben die Aktivistinnen und Aktivisten der Bürgerinitiative das Schicksal jener 462 Menschen erforscht, die 1938 in der Servitengasse gelebt haben. Maria Fritsche zieht eine niederschmetternde historische Bilanz:

"Im Jahr 1943 hat hier praktisch niemand mehr gewohnt, der jüdisch war. Einige Personen haben noch in sogenannten Mischehen gelebt, aber der Großteil der ehemaligen Bewohner ist entweder emigriert oder wurde deportiert in die Vernichtungslager nach Polen oder nach Osteuropa."

Das Denunziantentum blühte

Der Band "1938 - Adresse: Servitengasse" erzählt vom Schicksal dieser Menschen. Von Carl-Heinz Goldschmidt etwa, der als Bub im März 1939 mit einem Kindertransport nach Brüssel verschickt wurde und heute als Charles Kurt in den USA lebt. Von der Geflügelhändlerin Malvine Hess, die im November 1941 zusammen mit ihrem Mann ins Ghetto Lodz deportiert und dort ermordet wurde. Von der 39-jährigen Lebensmittelhändlerstochter Margarete Kende, wohnhaft im Haus Servitengasse 13, die im Juni 1942 zusammen mit ihren Kindern Margarete, 16, Herta, 12, und Paul, 10 Jahre alt, im Vernichtungslager Sobibor vergast wurde.

So viele Geschichten, so viele Schicksale, so viel nachbarliche Niedertracht aber auch... Unmittelbar nach dem Einmarsch der Nazis in Wien begann auch in der Servitengasse das Denunziantentum zu blühen. Schließlich lebten viele jüdische Mitbürger in schönen, repräsentativen Wohnungen, auf die relativ rasch der begehrliche Blick sogenannter "arischer" Nachbarn fiel.

Jede frei gewordene Wohnung sofort weitervermittelt

Der Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici betont in einem Essay, den er zum vorliegenden Band beigesteuert hat, dass durch die Vertreibung und Ermordung der Wiener Juden zwischen 1938 und 1942 etwa 70.000 Wohnungen frei wurden. Eine beachtliche Zahl: Das waren 10.000 Wohnungen mehr, als die berühmte Wohnbaupolitik des Roten Wien während der Ersten Republik errichtet hat!

"Wir haben in minutiöser Recherche herausfinden können, dass Wohnungsnachbarinnen, Hauseigentümer sofort, als Wohnungen frei waren, diese an Verwandte und so weiter weiter vermittelt haben", berichtet Birgit Johler. "Also, da gab es innerhalb der Gasse eine Verschiebung. Menschen sind nachgezogen, sobald die Wohnungen sogenannt 'judenfrei' waren."

Penible Recherchen

Die Aktivistinnen und Aktivisten der Bürgerinitiative Servitengasse haben penible Recherchen angestellt für ihr Buch. Sie haben Archive durchforstet, mit Zeitzeugen gesprochen, sie haben auch ehemalige Anwohner, die die Schrecken der Shoa überlebt haben, nach Wien eingeladen.

"Wir haben mit elf Personen, die in der Servitengasse gewohnt haben, Kontakt aufgenommen", erzählt Maria Fritsche. "Die Erfahrungen waren sehr, sehr positiv. Die Menschen haben sich gefreut, dass sich jemand für sie interessiert. Sie haben gesagt: Wieso hat das so lang gedauert? Aber die Freude hat doch überwogen. Die Leute haben gemerkt, wir sind nicht vergessen, wir haben einen Platz in der Heimat. Ich glaube, das war sehr, sehr wichtig."

Der Band "1938 - Adresse Servitengasse" ist ein liebevoll gestaltetes, sorgfältig ediertes Buch mit Vorbildcharakter. Viele, allzu viele Straßen, Gassen und Plätze gibt es in Österreich, deren Geschichte, während der NS-Zeit und danach, einer kritischen Aufarbeitung bedarf.

Mehr zum Ö1 Programmschwerpunkt "Zeitgeschichte 2008" in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Maria Fritsche und Birgit Johler (Hrsg), "1938 - Adresse: Servitengasse - Eine Nachbarschaft auf Spurensuche", Mandelbaum-Verlag