Eine schwer durchschaubare Geschichte
Stalins Abbild
Vor 60 Jahren, 1948, kam zu großen politischen Ereignissen in der Geschichte Jugoslawiens. In den Geschichtsbüchern ist dieses Jahr als Jahr des Bruches zwischen Tito und Stalin eingetragen. Viel davon liegt noch immer im Dunkeln verborgen.
8. April 2017, 21:58
Fast jedes, nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Kind im ehemaligen Jugoslawien war mit der merkwürdigen Erfahrungen konfrontiert, beim Blättern in manchen Büchern auf ausgeschnittene Figuren und geschwärzte Bildunterschriften zu stoßen. Orwell ließ grüßen. Die Erwachsenen gaben keine Antworten und Erklärungen zu den "verschwundenen" Personen. "Wenn du größer wirst, verstehst du das", war ihr einziger Kommentar.
Tito - Stalin
Als wir größer waren, ist der unsichtbare Mensch tatsächlich in Erscheinung getreten, diesmal als benannter Mann und Dämon. Es war Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, in der Geschichte besser als Stalin bekannt. Man konnte über ihn reden und sogar Fotos von ihm waren verfügbar. Jedoch ist er in den erwähnten Büchern nie mehr aufgetaucht. Dort blieb unser Präsident Tito allein als Held der Geschichte dargestellt.
Die Ursache dieses Verschwindens aus Büchern und Monographien ist als "Bruch zwischen Stalin und Tito" bekannt. Der deutsche Autor Michael W. Weithmann schreibt dazu in seiner "Balkan Chronik":
Das Verhältnis zu Moskau aber kompliziert sich zusehends. Risse hatten sich ja bereits während des Krieges aufgetan, hatte doch Stalin die Eigenständigkeit der jugoslawischen Partisanen und die Bildung der provisorischen Tito-Regierung 1943 schon als 'Dolchstoß in den Rücken der Sowjetunion' empfunden! Und, dass Tito die föderative Verfassung des zukünftigen Jugoslawiens nicht nur proklamierte, sondern sogar ernst nahm, muss ein weiterer Affront gegen den überzeugten Zentralisten im Kreml gewesen sein. Stalins Feind war jeder, der außerhalb seiner unmittelbaren Kontrolle stand.
Die eigenen Wege
Über die Motive, die Tito zu diesem Schritt bewogen haben, konnte man in jugoslawischen Zeiten kaum etwas mehr als ein paar allgemeine Sätze erfahren. Selbstverständlich konnte man auch über innerparteiliche Säuberungen, denen viele Menschen in den unzähligen Gefängnissen und Lagern (das bekannteste war auf der Adriainsel Goli Otok) zum Opfer vielen, nicht viel erfahren.
Merkwürdigerweise ist nach dem Zerfall Jugoslawiens diese Periode noch tiefer in Vergessenheit geraten. Tito erlebte posthum das Schicksal von Stalin. Er verschwand aus der Liste der angesehenen und wichtigen Persönlichkeiten seiner Zeit. Seine ehemaligen Mitarbeiter und Genossen kehrten ihm den Rücken und wie in einem Rausch versuchten sie, sich selbst nach den Regeln der neuen Zeit für ihre Taten mit und für Tito zu rechtfertigen.
Anstatt die Geschehnisse um 1948, das Jahr in dem Tito seinen eigenen politischen Weg unabhängig von der Sowjetunion einschlug, zu erklären und dessen Motive zu erläutern, schreiben die braven ehemaligen Generäle und Parteifunktionäre Titos ihre Berichte über die eigene Rolle im angeblichen Kampf gegen den "verhassten Kommunismus".
Die neuen Geschichtsschreiber
In allen ehemaligen Staaten, die nach dem Zerfall Jugoslawiens zur Unabhängigkeit gelangt sind, ist es fast zu einer manischen Umschreibung der Geschichte gekommen. Man frisiert die eigene persönliche Biografie und wendet sich gesellschaftlich irgendwelchen mythischen Zeiten der eigenen Volksgeschichte zu. In solchen Bildern gibt es keinen Platz für den einst geliebten Marschall Tito.
Man kann sich vorstellen, dass die heutigen Jugendlichen die gleiche Antwort bekommen, wie diejenigen, denen nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt wurde: "Warte, bis du älter bist, dann wirst du das verstehen." Die Jungen von damals haben ihre Chancen verpasst.
Hör-Tipp
Alle Sendungen zum "Jahr der Zeitgeschichte 2008" der kommenden und vergangenen 35 Tage finden Sie in oe1.ORF.at.
Buch-Tipp
Michael W. Weithmann, "Balkan-Chronik. 2000 Jahre zwischen Orient und Okzident, Pustet, Styria