Der Text zum Oratorium und seine Vorlage
Riskante Textmontage
Das Oratorium "Die Letzten Dinge" beruht auf Texten aus der "Offenbarung des Johannes" aus dem "Neuen Testament". Spohr und Rochlitz ignorieren, so gut es dramaturgisch geht, Verse, die aufgeklärten, selbst in der Restauration öffentlich Liberalität bekennenden Menschen peinlich sein mussten.
8. April 2017, 21:58
Das Oratorium "Die Letzten Dinge" beruht auf Texten aus der "Offenbarung des Johannes" aus dem "Neuen Testament". Kritiker des Christentums betrachten dieses, auch "Die geheime Offenbarung" genannte, Buch als "das schrecklichste Erbe des Neuen Testaments" und sprechen von seiner katastrophalen Wirkungsgeschichte.
Nach kirchlicher Lehre ist die "Apokalypse" eine Niederschrift "himmlischer Botschaften", "eine echt christliche Schrift" und "das große Trost- und Mahnbuch der Kirche" (Einheitsübersetzung, S. 1390); für einen bibelfesten Kritiker des Christentums wie Franz Buggle ein Buch "extrem sadistisch-inhumanen Inhalts", in dem das "Kommen Christi" mit den Worten angekündigt wird, dass "alle Völker … seinetwegen jammern und klagen" werden (Offb., I; 17), der "Gipfelpunkt der in der biblisch-christlichen Religion enthaltenen sadistisch-inhumanen" Tendenzen (Buggle, 119), ein "Text, in dem gerichtet und gestraft wird", dessen Autor "Götzendienern" - Andersgläubigen -, deren einzige Verfehlung es ist, "keine Anhänger des biblisch-christlichen Gottes und Jesu zu sein", "ewige qualvolle Strafen" in Aussicht stellt.
Verse aus anderen Büchern der Bibel
Spohr und sein Librettist Rochlitz montieren aus diesem Text Verse, die großteils Tröstliches ansprechen und verwenden gelegentlich auch Verse aus anderen Büchern der Bibel. Dem in Feierstunden gern zitierten, und auch von Spohr vertonten, trostreichen Vers "Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen" (21, 5) folgt im neutestamentarischen Text eine Drohung gegen Andersdenkende, welchen sittliche und kriminelle Verfehlungen zugeschrieben werden: "Aber die Feiglinge und Treulosen, die Befleckten, die Mörder und Unzüchtigen, die Zauberer, Götzendiener und alle Lügner - ihr Los wird der See von brennendem Schwefel sein" (21; 8).
Textteile ignoriert
Spohr und Rochlitz ignorieren, so gut es dramaturgisch geht, Verse, die aufgeklärten, selbst in der Restauration öffentlich Liberalität bekennenden Menschen peinlich sein mussten. Spohr stand 1848 - gegen seinen Dienstgeber, den Kurfürsten Friedrich - auf Seiten der Revolution und bedauerte nach deren Scheitern "zu alt" zu sein, um "nach dem freien Amerika" auszuwandern.
Diese Textauswahl stellt der sich als geoffenbart verstehende Text ausdrücklich unter Strafandrohung: "Wer etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, von denen in diesem Buch geschrieben steht. Und wer etwas wegnimmt von den prophetischen Worten dieses Buches, dem wird Gott seinen Anteil am Baum des Lebens und an der Heiligen Stadt wegnehmen, von denen in diesem Buch geschrieben steht." (22; 18-20). Wie es in diesem Sinne mit Spohrs noch zum 145. Todestag in einer Gedenkfeier am 22. Oktober 2004 beschworenen "tiefen Glauben" steht, kann nachprüfen, wer das Original mit dem Libretto vergleicht.
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Apropos Klassik, Freitag, 21. März 2008, 15:06 Uhr
CD-Tipp
Louis Spohr, "Die letzten Dinge. Oratorium nach Worten der Heiligen Schrift", Anna Korondi, Vanessa Barkowski, Jörg Dürmüller, Wladimir Bajkow, Chorwerk Ruhr, Capella Coloniensis, Bruno Weil, WDR/ capricccio 60135
Links
Louis Spohr
The Spohr Society of Great Britain
Naxos - Louis Spohr
Die Offenbarung des Johannes, Kapitel 1
Amici di Dio - Die Offenbarung des Johannes ist ein gefürchtetes Buch
Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten
[http://www.ibka.org/artikel/miz92/buggle.html - Denn sie wissen nicht, was sie glauben
Sam Harris - The End of Faith