Erfolgsgeschichte mit Forschungsnachholbedarf

Der Schatten des Erbes

Hervorgegangen aus der legendären Mittwoch-Gesellschaft, fand die vor 100 Jahren gegründete Wiener Psychoanalytische Vereinigung nach dem "Anschluss" ein jähes Ende. Zu diesem Zeitpunkt waren bis auf drei alle Psychoanalytiker vor den Nazis geflohen.

Nachdem Richard Nepallek im Jahre 1940 unter bis heute nicht eindeutig geklärten Umständen ums Leben gekommen war und Alfred Winterstein sich aufgrund seiner jüdischen Herkunft ganz aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, lag es allein bei August Aichhorn die Psychoanalyse "am Leben zu erhalten".

Um ihn scharrten sich die in Wien verblieben Ausbildungskandidaten und Kandidatinnen, denen die Lehranalytiker und Analytikerinnen abhanden gekommen waren sowie eine sehr inhomogene Gruppe von vorwiegend angehenden oder bereits fertig ausgebildeten Mediziner, die an psychoanalytischer Theorie und Praxis interessiert waren.

Psychoanalyse nach 1938

In dieser Gruppe, fand sich das im Widerstand tätige Ehepaar Ella und Kurt Lingens ebenso wie NSDAP-Mitglieder. 1942 wurde die von August Aichhorn gegründete Arbeitsgruppe dem "Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie", das unter der Leitung von Mathias Heinrich Göring, einem Cousin des Reichsmarschalls stand, angeschlossen. Ab diesem Zeitpunkt absolvierten die angehenden Psychychoanalytiker -analytikerinnen ihre Ausbildung formal in diesem Görig-Institut.

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage - so der Wissenschaftshistoriker Mitchel Ash - ob das, was ab 1938 an psychoanalytischen Themen diskutiert und wie praktiziert wurde, auch tatsächlich Psychoanalyse freudscher Prägung war. So soll durch ein Forschungsprojekt geklärt werden, in welcher Form psychoanalytisches Denken und Psychoanalyse nach 1938 angesichts der verheerenden Situation möglich war und welche Handlungsspielräume sich August Aichhorn und seine "Mitstreiter" nutzbar machen konnten, bzw. ihnen zugestanden wurden.

Psychoanalyse von 1945 bis 1971

Ihm gehe es um die Frage, sagt der Wissenschaftshistoriker Mitchel Ash, wie sich Psychotherapie im Allgemeinen und Psychoanalyse im speziellen unter autoritären oder diktatorischen Regimen gestalten, ob sie möglich sind, welche Funktionen sie haben. Darüber könnten die Protokolle, die über die Zusammenkünfte der Arbeitsgruppe und über die Vorträge der Ausbildungskandidatinnen und Ausbildungskandidaten abgefasst wurden, Aufschluss geben.

Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass diese Protokolle möglicherweise für das Göring-Institut "geschönt" worden sind. Was weiterhin einer Aufarbeitung harrt und auch im aktuellen Forschungsprojekt keine Berücksichtigung findet, das ist die Zeit nach 1945. Wie war es um die Psychoanalyse von 1945 bis 1971, dem Jahr in dem der Internationale Psychoanalytische Kongress in Wien stattfand und zu dem Anna Freud erstmals wieder nach Wien kam, bestellt.

Ambivalenz und Rivalität

In der Bearbeitung dieser Zeit geht es nach Ansicht der Historikern Christiane Rothländer unter anderem um die Frage, ob 1945 ein völliger Neuanfang gesetzt wurde oder ob Schatten des Nationalsozialismus auf diese Zeit gefallen sind. Man wisse auch nicht, so Christiane Rothländer, wie die Ausbildungslehrgänge in der Nachkriegszeit gelaufen sind, wo und bei wem die Kandidatinnen ihrer Ausbildung gemacht haben. Vor allem nachdem August Aichhorn bereits 1949 verstorben ist und die zwei einzigen Psychoanalytiker, die 1945 nach Österreich zurück gekommen waren, das Land bald wieder verlassen haben.

Und aufgearbeitet werden müsse auch, warum und unter welchen Umständen es zur Abspaltung bzw. Gründung des Arbeitskreises für Tiefenpsychologie kam. Wobei WPV und Arbeitskreis, der mittlerweile in Arbeitskreis für Psychoanalyse umbenannt wurde, sich nach Jahren großer Ambivalenz und Rivalität kontinuierlich angenähert haben und seit zwei Jahren miteinander eine Akademie führen.

Alte und neue Konflikte

In ihrem Festvortrag zur jüngst in Wien abgehaltenen Jahrestagung der Europäischen Psychoanalytischen Föderation meinte die WPV-Vorsitzende Christine Diercks in ihrem Festvortrag:

"Jubiläen verführen dazu, verklärend zu den Ursprüngen zurückzukehren, um an deren vermeintlicher Macht zu partizipieren und damit die Konfrontation mit aktuellen Konflikten, die eine ebenso lange Geschichte haben, zu vermeiden." Und es scheint sich bereits ein neuer Konflikt anzubahnen, denn so manchen WPV-Mitgliedern ging die Annäherung zwischen Arbeitskreis für Psychoanalyse und Wiener Psychoanalytischen Vereinigung nicht nur zu rasch sondern auch zu wenig hinterfragt vonstatten.

Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 15. April 2008, 19:05 Uhr