Das Buch der Woche von J.M. Coetzee
Tagebuch eines schlimmen Jahres
Ein Schriftsteller, der über sich selbst als Romanfigur schreibt, ist nichts Neues. Und auch das Spiel mit Metatexten wurde bereits unzählige Male durchexerziert. Es sind nicht diese literarischen Experimente, die J.M. Coetzee lesenswert machen.
8. April 2017, 21:58
John Maxwell Coetzees neues Buch beginnt so, wie es sich für einen Nobelpreisträger gehört. Gravitätisch, ernst, durch und durch seriös. Jede Betrachtung über den Ursprung des Staates gehe von der Prämisse aus, dass "wir" - also die Untergebenen - an seiner Entstehung teilhaben, heißt es da. Und im folgenden widmet sich Coetzee - oder besser gesagt die Romanfigur J.C., die dem realen Autor viel gemein hat, der Frage, ob und wie die Bürger die Form des Staates ändern oder ihn gar abschaffen können. Es steht uns nicht mehr frei, heißt es da, die Machtübergabe an den Staat rückgängig zu machen. Wir werden als abhängige Bürger geboren. Und wir haben keine Möglichkeiten uns von dieser Abhängigkeit zu emanzipieren.
Der essayistischen Abhandlung über den Ursprung des Staates folgt ein Aufsatz über den Anarchismus, einer über die Demokratie, über Macchiavelli, den Terrorismus und über etliche andere Themen. Diese sehr klugen, mitunter auch witzigen Ausführungen, die den Großteil des Buches ausmachen, werden von persönlichen Erlebnissen des Autors konterkariert. Denn just als er mit seinen Aufzeichnungen beginnt, trifft er in der Waschküche seines Wohnblocks eine sehr hübsche junge Frau.
Text auf zwei Ebenen
Zaghaft kommen die beiden ins Gespräch und der Autor fragt Anya, ob sie nicht Lust hätte seine Texte zu transkribieren - gegen gutes Geld, versteht sich. Aber Anya schreibt nicht nur die Gedanken des alternden Schriftstellers nieder, sie bringt auch ihre eigenen zu Papier. Und so ist der Text in zwei Ebenen geteilt. Oben philosophiert J.C. unter anderem darüber, wie und warum sich das Individuum dem Staat ausgeliefert hat, darunter breitet er seine Beziehung zur jungen Frau aus und wieder darunter erfährt der Leser, was sie denkt. Und das ist zumeist nichts Nettes. Sie mokiert sich über seine Bekleidung, flirtet mit ihm und fordert ihn durch ihr flatterhaftes Wesen heraus. Er solle doch bitte aufhören, sich Gedanken über Politik zu machen, meint Anya. Liebesgeschichten, das mögen die Menschen lesen.
J. M. Coetzee gilt gemeinhin als trockener Autor. Mit diesem Vorurteil versucht er nun aufzuräumen. Denn "Tagebuch eines schlimmen Jahres" ist ein durchaus selbstironischer Text. Zeigt er doch die Diskrepanz, die zwischen den geistigen Höhenflügen eines großen Autors, seinem banalen Alltag und seinen Begierden und Wünschen besteht. Denn auch wenn der alte Körper nicht mehr so recht mag, einem hübschen Frauenhintern kann sich J.C. noch immer nicht entziehen.
Ein Buch über Gegensätze
Coetzees neuer Roman ist ein Buch über Gegensätze. Über den Gegensatz von Mann und Frau, von Alter und Jugend, von Geist und Alltag. Der Leser begegnet einem Autor, der alles erreicht hat, was ein Autor erreichen kann. Nur gegen die Zeit und den Verfall seines Körpers vermag er nichts auszurichten. Sein Körper will nicht mehr so recht, die Parkinson Krankheit plagt ihn und auch der Geist hat schon bessere Zeiten erlebt. Einen neuen Roman kann er nicht mehr stemmen und deshalb kommt ihm das Angebot eines deutschen Verlags ganz recht. "Feste Ansichten" soll ein Sammelband heißen, in dem sechs Autoren aus verschiedenen Ländern sich über Themen ihrer Wahl äußern. Je kontroverser, desto besser. Und so beginnt also J.C. sich den Kopf "Über das Entschuldigen", "Über Steuerungssysteme" oder "Über Musik" zu zerbrechen.
Coetzees Roman ist ein Text über die Unfähigkeit. Über die Unfähigkeit dem Alter zu trotzen; über das Nicht-Gelingen von Beziehungen und über das Scheitern eines klugen Geistes am Alltag. Denn über alles hat die Romanfigur J.C. etwas zu sagen. Über die australische Politik, über den islamistischen Terror, über das Leben nach dem Tode.
Aber seine engste Umgebung deutet er leider falsch. Denn Alan, Vermögensberater und Ehegatte von Anya, überlegt intensiv, wie er dem alten Mann sein Geld abspenstig machen kann. Wenn im veröffentlichten Text seine Frau vorkommt, wird er den Schriftsteller auf Verletzung der Persönlichkeitsrechte klagen. Aber vielleicht wäre es doch besser, den Autor gleich auszurauben? Das bringt gleich Geld und minimiert die Gefahren eines Gerichtsprozesses. J.C erkennt die Gefahr nicht - ganz im Gegenteil: er überlegt, ob er Alan nicht sein Vermögen anvertrauen soll.
Metatexte und handwerkliche Bravour
Dass ein Schriftsteller über sich selbst als Romanfigur schreibt ist nichts Neues. Gerade in letzter Zeit häufen sich ja solche Romane. Und auch das Spiel mit Metatexten wurde bereits unzählige Male durchexerziert. Es sind also nicht diese literarischen Experimente, die "Tagebuch eines schlimmen Jahres" lesenswert machen.
Es ist vielmehr die handwerkliche Bravour. Denn selbst das Artifizielle mutet bei Coetzee ungeheuer leicht und natürlich an. Fazit: Das "Tagebuch eines schlimmen Jahres" mag zwar kein Meisterwerk wie "Schande" oder "Warten auf die Barbaren" sein, das Werk eines großen Meisters ist es jedoch allemal.
Buch-Tipp
J.M. Coetzee, "Tagebuch eines schlimmen Jahres", aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, S. Fischer Verlag