Eine besondere Roma-Siedlung
Die Gazelle von Belgrad
In Belgrad gibt es an die 150 Siedlungen, die dem gängigen Sprachgebrauch nach als Slums oder Elendssiedlungen bezeichnet werden können. Die Autoren des Reiseführers "Beograd Gazela" haben in ihrem Buch eine besondere Siedlung dargestellt.
8. April 2017, 21:58
In Belgrad gibt es an die 150 Siedlungen, die dem gängigen Sprachgebrauch nach als Slums oder Elendssiedlungen bezeichnet werden können. Die Autoren des Reiseführers "Beograd Gazela. Reiseführer in eine Elendssiedlung", Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü, haben in ihrem Buch eine besondere Siedlung dargestellt.
"Über die Bewohner/innen dieser Siedlungen lässt sich kaum Konkretes erfahren, weder bei den für sie zuständigen Behörden noch bei Hilfsorganisationen. Ein entscheidender Grund hierfür ist, dass die Bewohner/innen nahezu ausschließlich Roma sind - eine marginalisierte Minderheit im sozialen Gefüge Serbiens", steht in der Einleitung des Buches.
Form und Inhalt
Um diese "marginalisierte Minderheit" in ihrer desolaten Siedlung in zentraler Stadtlage doch ins Lampenlicht zu bringen, haben sich die drei Autoren, Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü für die Form eines scheinbar ganz üblichen Reiseführers entschieden, als ginge es um ein hoch begehrtes Reiseziel und nicht um eine von den schlimmsten Elendssiedlungen in Europa. Man muss sich daher nicht wundern, dass "es kaum Menschen gibt, welche die Siedlung besucht haben".
Wie in dieser Gattung üblich, finden sich die wichtigen Fakten am Beginn des Buches; Fläche: 0,48 Quadratkilometer, 820 Einwohner/innen (Stand 2005) und so weiter."
Blickt man beim Überfahren des Most Gazela (Gazellen Brücke) auf die darunterliegende Siedlung, so bietet sich ein Durcheinander an Plastikplanen, Autoreifen, Ziegelsteinen und Teppichen dar.
In unserer reiselustigen Zeit kauft man einen Reiseführer, um sich über das Reiseziel zu informieren. Man kommt dem fremden Land näher, seinen Bewohnerinnen und Bewohnern und kann fast immer, am Ende, einige am Ort brauchbare Sätze wie zum Beispiel "Guten Tag" und "Wie geht es Ihnen" finden.
Heikle Fragen
In Beograd Gazela vermisst man alles, was übliche Reiseziele ausmacht, selbst Wasser, Strom und Hygiene.
Sich des Zwiespältigen ihres Versuch bewusst, haben die Autoren jeweils am Fuß der Seite auszugsweise jene Diskussionen veröffentlicht, die während des Entstehens des Buches geführt wurden, um auch auf die heikelsten Fragen einen Blick freizugeben. Ob das reicht, bleibt dahingestellt. "Das Buch will damit neben der Begehung der Siedlung und der Beschreibung ihres Alltags zugleich eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Lebenssituation von Roma in Belgrad gewährleisten".
Das Lachen der Roma
Wie alle solchen Handbücher ist "Beograd Gazela" mit vielen hochwertigen Fotos ausgestattet. Die Hälfte der Fotos zeigt die betrübliche Ansiedlung, sehr oft menschenleer. Man fragt sich: Wie ist das bei einer Bevölkerungsdichte von 1907 Einwohnern pro Quadratkilometer überhaupt möglich? Die wenigen Porträts überraschen: auf fast allen sieht man lachende Menschen. Das ist nicht "unser Lachen", das allen zeigen sollte, dass wir locker, zufrieden und erfolgreich sind. Das Lachen der Roma entspricht nicht unserem masken-ähnlichen Lachen. Das ist ein Lachen, welches nicht ein Zeichen, sondern ein Ausdruck ist. Bei ihnen lachen die Augen.
Ohne diese Erfahrung zu idealisieren und daraus irgendwelche "romantische" Folgerungen zu ziehen, fragt man sich doch, wie es möglich ist, dass Menschen, die in solchem Elend leben, ihre Fähigkeit zu lachen nicht verloren haben. Das ist kein Plädoyer für den Erhalt der Siedlung "Beograd Gazela" im Zentrum von Belgrad und damit im Zentrum von Europa. Dieser "Reiseführer in eine Elendsiedlung" lehrt mehr über uns und unsere gesellschaftliche Verantwortung, als man das auf den ersten Blick merkt.
Buch-Tipp
Lorenz Aggermann, Eduard Freudmann und Can Gülcü, "Beograd Gazela. Reiseführer in eine Elendssiedlung", Drava 2008
Links
Drava
Beograd Gazela