Das Buch der Woche von Bora Cosic

Die Vogelklasse

In einem Gymnasium sitzen zusammengepfercht Schüler und warten auf das Leben, das irgendwo draußen stattfindet. Unter ihnen der Erzähler. In rhythmisierter, metaphernreicher Sprache schildert Bora Cosic ein Dasein, das keine Gegenwart, nur Zukunft hat.

In einem europäischen Gymnasium sitzen auf engem Raum zusammengepfercht Schüler und warten auf das Leben, das irgendwo draußen stattfindet. Unter ihnen der Erzähler. Ein Haufen Kinder, zusammengeknüllt wie ihre Mäntel. Verbannt in einen Raum mit ewigem Tageslicht. Ausschließlich auf sich selbst bezogen. Einer nicht enden wollenden Übung in einer Wirklichkeit unterzogen, die nur Theorie ist; zum Bewohnen einer Darstellung gezwungen. Ein Dasein, das keine Gegenwart, nur Zukunft hat.

Denn das, was wir dort taten, wie wir uns bewegten und über allerhand redeten - alles wies darauf hin, dass wir uns überhaupt nicht dort und in jenem Moment befanden, sondern wer weiß wo, in einem fernen Futur. Wo es nötig sein würde, so zu reden und sich so zu bewegen, wie wir das damals gemacht haben, in Form einer Übung.

Der Raum als Metapher
Eine Schulklasse ist einerseits ein Raum, andererseits eine Gesellschaft. Wie um sich ihrer vagen Existenz zu vergewissern, entwickelt Bora Cosics Erzähler immer neue Bilder für sie. Die Klasse als Gemeinschaft von Gefangenen, die sich misstrauisch beäugen.

Die Klasse als Militärbiwak in einem unüberblickbaren Manöver. Als Rettungsboot auf See, das, während das Schiff der Elterngeneration sinkt, einer ungewissen Zukunft entgegenschaukelt. Als Krankenzimmer voller blasser Patienten, denen die noch zu erlebende Zeit fehlt - eine Unterernährung, die im Sanatorium der Wissenschaft behoben wird. Als Theater, in dem, in einem wiederaufgenommenen Stück, hauptsächlich Statistenrollen verteilt werden. Die Klasse als Bummelzug durch eine Kulisse fremder Ideen.

Die Kraft der Fantasie
Der Erzähler lehnt Bündnisse in dieser Zwangsgemeinschaft ab, leidet unter dem ständigen, alles verschleiernden Lärm, wehrt sich, indem er sich in der überfüllten Klasse Raum schafft - wenn auch nur in seiner Vorstellung. Er imaginiert sich einen freien Platz in der Klassenmitte, der einmal eine Lichtung mit einem Hirsch sein kann, dann ein Podium für ein stilles Streichquartett.

Er lässt in seiner Vorstellung einen Baum wachsen, der nur von ihm gesehen wird und auf dem sich trotzdem ein Vogel niederlässt. Die Schulbänke, jene Erfindung zur Biegung und Disziplinierung des Kinderkörpers, türmt er zu einem Berg auf.

Die Bilder seiner Fantasie bleiben zwar alle innerhalb des Klassenraums wie in einer Schachtel liegen, doch sind sie Teil einer Überlebensstrategie, einer langsamen Befreiung.

Daher schmiede auch ich, in meiner ewigen Bank sitzend, unaufhörlich an einem eigenen Plan, wie ich in dieser Klasse, dieser Vogelklasse, überlebe.
Wie ich mich in diesem allgemeinen Käfig meiner frühen Leiden zum eigenen, wenn auch sehr kurzen Flug befähige.


Ganz auf sich gestellt
Das Herauswachsen aus der kindlichen Fremdbestimmtheit, das Erwachen des Bewusstseins, das Heraustreten - oder besser Auffliegen - aus der schulischen Ersatzwelt in die eigene Wirklichkeit, vollzieht sich höchst individuell. Das Erwachsenwerden ist für das erzählende Ich keine Gruppenarbeit, sondern geschieht in Konspiration mit sich selbst, im Geheimbund mit den eigenen Gedanken.

Denn es ist an ihm, das kaiserliche Regime der eigenen Kindheit und die Diktatur des Proletariats seiner Jugend zu stürzen. Dazu ist viel geheimes Tuscheln in meiner Seele nötig, wie ich es tun soll, was und mit wem. Weil ich weiß, dass mein Wesen keine besonderen Verbündeten hat, abgesehen von denen, die in mir selbst sind.

Bewusstwerdung und Erinnerung
"Die Vogelklasse" ist aber nicht nur ein Buch über das Erwachen eines Bewusstseins, sondern - unter anderem - auch eines über das Erinnern. Die zeitliche Verortung des Erzählers bleibt im Unklaren. Er scheint überall gleichzeitig zu sein und seine Erinnerung auch.

Bora Cosic führt durch kunstvolle Verschachtelung der Zeitebenen die Funktionsweise der Erinnerung vor, die nicht Vergangenes wiederherstellt, sondern gegenwärtig konstruiert wird. Festgemacht wird sie in Bildern, die manchmal sogar zweidimensional angelegt sind.

Hoch oben hingen an den Wänden Glasgefäße, in denen sich Manometer befanden, Geräte zum Messen von Erdbeben, eine Apothekerwaage. Es gab auch Landkarten von allen Kontinenten und fast im gleichen Format eine Anleitung, wie man mit einem Ertrinkenden verfährt... An all das erinnere ich mich als eine fein gearbeitete Zeichnung, auf der auch ein Vogel nicht fehlt, der diese Szene beobachtet, und eine Wolke, die langsam schwebt, während der Ertrinkende um sein Leben kämpft.

Kaleidoskop der Metaphern
Bora Cosics in rhythmisierter Sprache verfasstes Prosastück besteht nicht aus Kindheitsanekdoten. In seinen kurzen Kapiteln kann man sich keinem Erzählfluss hingeben. Vielmehr dreht Cosic an einem Kaleidoskop aus Metaphern - literarische Bezüge zu Beckett und vor allem Kafka eingeschlossen.

So stelle ich mir einen Apfel vor, der unser ganzes Klassenzimmer okkupiert, indem er fast jedes Teilchen des Raums dort einnimmt, und wir übrigen finden, an die Wände gedrängt, kaum ein wenig Platz. Das ist keine gewalttätige Szene, auch keine hässliche, sondern nur eine Art, dem Gedächtnis die Bedeutung dieses Apfels, die er in unserem Leben haben müsste, einzuprägen. Und dann müssen wir seine riesigen Dimensionen, fast so groß wie die Welt, und jene Aufmerksamkeit, die wir ihm entgegenbringen müssen, spüren.

Bora Cosic lässt uns einmal aus der Nähe einmal aus der Ferne in seine Vogelklasse blicken. In einen Erinnerungsraum, der ständig neu bestückt wird. In ein Käfig voller Möglichkeiten.

Auszeichnung für Cosic
Am 25. April 2008 wurden Bora Cosic und seine Übersetzerin Katharina Wolf-Grießhaber mit dem internationalen Literaturpreis "Albatros", der mit 40.000 Euro dotiert ist, ausgezeichnet. Das Besondere des Preises ist nach Angaben des Medienarchivs Günter Grass Stiftung Bremen, dass der "Albatros" gleichzeitig das fremdsprachige Werk und dessen Übersetzung ins Deutsche auszeichnet. Die Stiftung verleiht den Preis seit 2006 alle zwei Jahre.

Das Buch der Woche ist eine Aktion von Ö1 und der Tageszeitung Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 25. April 2008, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 27. April 2008, 18:05 Uhr

Buch-Tipp
Bora Cosic, "Die Vogelklasse", Folio Verlag

Link
Günter Grass Stiftung Bremen - Albatros