Die Auswirkungen eines besonderen Jahres

1968

Der "Kulturkampf um 1968" erlebt zum 40. Jubiläum eine Neuauflage. Dabei haben sich die Zeithistoriker noch immer nicht geeinigt, wer oder was hier eigentlich jubiliert. Eine Studentenrevolte, eine Jugendrebellion, eine antiautoritäre Revolution?

Attentate auf Martin Luther King, Rudi Dutschke und Robert Kennedy, Tet-Offensive in Vietnam, im deutschen Bundestag wurden die Notstandsgesetze angenommen, die Nazijägerin Beate Klarsfeld ohrfeigte Kanzler Kiesinger, im Pariser Quartier Latin stiegen die Studenten auf die Barrikaden, in Griechenland verboten die Obristen Miniröcke und Beatlesfrisuren, in der damaligen Tschechoslowakei überrollten sowjetische Panzer den Prager Frühling, und in Österreich veranstalteten die Aktionisten die "Uniferkelei".

Ein dichtes Jahr

1968 ist eine Zeitikone mit verwackeltem Sinn, das Echo jener Tage ist überaus irritierend. Die ins Kraut schießenden Deutungen erweckten bisweilen den Eindruck eines babylonischen Sprachgewirrs. Jürgen Habermas bezeichnete 1968 als "Fundamentalliberalisierung", Claus Leggewie sprach von einer "glücklich gescheiterten Revolution", Claus Offe ortete ein "Epi-Phänomen" eines ohnehin unvermeidlichen sozialen Wandels, Helmut Schmidt eine "Massenpsychose", Richard Löwenthal einen "romantischen Rückfall" und Raymond Aron schlicht einen "Karneval".

Fest steht: 1968 war mit Sicherheit das politisch dichteste Schaltjahr in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Selbst am 29. Februar war etwas los: In der "New York Review of Books" erschien ein öffentlicher Brief von Hans Magnus Enzensberger an den Präsidenten der Wesleyan University, in dem der deutsche Autor darlegte, warum er sein Stipendium zurückgab und die USA verließ. Enzensberger brach nach Kuba auf, um dort die Revolution zu unterstützen.

Die "Neu-68er"

Als die Welt 1968 global in Bewegung geriet, war ich kaum ein Jahr alt. Streng genommen bin ich also ein "Neu-68er". Das bedeutet, ich habe in den letzten 40 Jahren von einer Revolution profitiert, die politisch eine Niederlage, aber soziokulturell ein Erfolg war. Zumindest sehen das heute die meisten Zeithistoriker/innen so. Was meinen sie damit? Um es mit einem Satz zu sagen: Klassengesellschaft und Kapitalismus wurden nicht abgeschafft, aber die Welt ist in den vergangenen vier Jahrzehnten trotzdem eine bessere geworden. Ob dafür tatsächlich die 68er-Bewegung verantwortlich zeichnete, ist nun zur aktuellen Streitfrage im ewigen Kulturkampf zwischen Links und Rechts geworden.

Und wir "Neu-68er" werden in diesem Disput vor die Entscheidung gestellt, wofür wir uns eigentlich bedanken sollen. Ist es die antiautoritäre Gesellschaft oder der allgemeine Verfall der Werte? Frauen-, Schwulen- und Lesbenemanzipation oder Patchwork-Familie und vater- oder mutterlose Kinder? Eine befreite Sexualität oder die Pornografisierung der Erotik? Ein demokratischeres Bildungssystem oder die Verhinderung von Exzellenz an den Universitäten? Die Globalisierung der Protestkultur oder die massenmediale Tyrannei hedonistischer Selbstverwirklichung? Neoliberalismuskritik oder Sozialstaatschmarotzertum?

1968 - als Popmythos, Chiffre eines neuen Lebensgefühls oder politische Zäsur - polarisiert bis heute die ideologischen Lager. Für das Jahr, das niemals zu Ende ging, scheint immer noch ein Satz von Theodor W. Adorno an die Adresse von Herbert Marcuse zu gelten: "Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der Letzte zu unterschätzen: Sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt."

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 5. Mai bis Donnerstag, 8. Mai 2008, 9:05 Uhr

Buch-Tipps
Fritz Keller, "Mai 68. Eine heiße Viertelstunde", Mandelbaum Verlag

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Jutta Winkelmann, Gisela Getty, Jamal Tuschik, "Die Zwillinge oder Vom Versuch Geist und Geld zu küssen", weissbooks

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