Von Gutenberg bis zum World Wide Web
Das Okkulte
Die deutsche Ethnologin Sabine Doering-Manteuffel beschreibt in ihrem Buch, wie sich "das Okkulte" in den letzten 500 Jahren entwickelt und, vor allem, verbreitet hat: der mediale Bogen reicht vom Gutenberg'schen Buchdruck bis zum Internet.
8. April 2017, 21:58
"Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier finden Sie ein unbegrenztes Land, wo sie sich nach Belieben anbauen können" schrieb Immanuel Kant in seiner Schrift "Träume eines Geistersehers" 1766. Damals, mitten in der Aufklärung, waren die Europäer gerade dabei, dieses "Schattenreich", die Welt des Fantastischen, des Übersinnlichen, der Magie und des Aberglaubens zu verlassen – glaubten sie. Die Realität sah anders aus: Je verständiger und vernünftiger, je säkularer die Gesellschaft wurde, desto üppiger gedieh auch das Okkulte, Irrationale, das Esoterische, das Geheimnisvolle. Fortschreitende Bildung und Alphabetisierung, das ist die Grundthese der Augsburger Völkerkundlerin Sabine Doering-Manteuffel, hätten den Aberglauben in mindestens gleichem Maß gefördert als sie ihn vertrieben.
Das Streben nach vernünftigen Erklärungen blieb unauflösbar mit seinem okkulten Schatten verbunden – je heller das Licht, desto markanter der Schatten.
Die Autorin spürt diesem okkulten Schatten in ganz Europa nach – ausgehend vom Buchdruck mit beweglichen Lettern, den sie als Voraussetzung für die Erfolgsgeschichte alles Okkulten sieht.
Aufschwung mit Großereignissen
Anschaulich beschreibt Sabine Doering-Manteuffel, wie im Lauf der Neuzeit - parallel zur Verbreitung von Information und Wissen - die bisher nur mündlich im Volk kursierenden Geschichten magischen Inhalts, Wandersagen und allerlei geheimnisumwitterter Tratsch nun via Druckerpresse ihren Umlauf rasant beschleunigten - auch, weil der Sinnenkitzel jetzt Profit brachte. Und der Bedarf an Sensationsmeldungen wuchs an, je mehr Menschen lesen konnten und auch je mehr Texte in den jeweiligen Volkssprachen gedruckt wurden.
Reiche Nahrung gaben dem modernen Okkultismus aber immer wieder Großereignisse, gesellschaftliche Umbrüche, Katastrophen aller Art: Kriege etwa, Epidemien und Seuchen. In einem der fesselndsten Kapitel des Buches beschreibt Sabine Doering-Manteuffel, wie seit dem 15. Jahrhundert mit Büchern über die Pest, zugehörigen Ratgebern zur Seuchenprophylaxe und einschlägigen Verordnungen eine neue Literaturgattung entstand, die ihrerseits – und natürlich nicht immer seriös - aus dem alchimistischen Schrifttum schöpfte. Und wie dann im 18. Jahrhundert Publikationen über Teufelsheimsuchungen, die eigentlich der Standhaftigkeit im christlichen Glauben dienen sollten, den Nebeneffekt hatten, dass Teufel und Dämonen, solcherart medial gestärkt, bis auf den heutigen Tag herumspuken.
Überlebt haben sie in Sagen und Märchen der Gebrüder Grimm aus dem 19. Jahrhundert. Ihre Spuren lassen sich in modernen Zeitungslegenden fassen, etwa in der Geschichte vom Anhalter mit dem Teufelsfuß. Spukhäuser, in denen unheimliche Dinge geschehen, werden auch heute noch "gemeldet".
Entwicklung bis in die Gegenwart
Am Ende des aufklärerischen 18. Jahrhunderts zieht der Schriftsteller Amandus Gottfried Müllner angesichts des medialen Erfolges okkulter Schriften und Überzeugungen den ernüchterten Schluss: Die Aufklärung habe versagt. Sie selber halte am Leben, was sie bekämpfe. In Müllners "Abschiedsrede an die Hexenversammlung auf dem Blocksberge" legt der Teufel seine angestammte, bocksbeinige Zottelgestalt ab und verwandelt sich, teuflischerweise, in einen zeitgenössischen Schriftsteller.
Also verfolgt Sabine Doering-Manteuffel die weitere Entwicklung des Okkulten in seinen unzähligen Spielarten bis in die Gegenwart: Wie da beim Übergang Europas zum Industriezeitalter mit all den sozialen Umbrüchen der Bedarf an Mystisch-Esoterischem gestiegen sei; wie später die schockartige Katastrophe des Erste Weltkrieges Hellseherei und Schicksalsglauben aufblühen ließ - mitsamt dem massenhaften Absatz einschlägiger Literatur.
Esoterische Publizistik
Besonders eindrucksvoll und sinnfällig ist der Autorin diese Schilderung gelungen: Die Geburt des nationalsozialistischen Weltbildes aus dem Geist des Okkulten. Hier wird, beispielsweise die russische Obskurantin Petrowna Blavatsky mit ihrer "Geheimlehre" von den so genannten "Wurzelrassen" zitiert. Mit derlei Wahnideen sei es aber mit dem Untergang des Dritten Reiches keineswegs vorbei gewesen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erwuchs aus ihnen in einem unverfänglichen Grundton ein wichtiger Teil der esoterischen Publizistik. Die Massenpresse, das okkulte Dienstleistungsgewerbe und schließlich das Internet mit seinen esoterischen Foren haben den breiten Strom des völkischen Okkultismus in Fluss gehalten und zu Teilen sogar verstärkt.
WWW bietet ungeahnte Verbreitungsmöglichkeiten
Bei der Einschätzung des Internet allerdings scheinen da und dort die eigenen Thesen mit der Autorin durchgegangen zu sein: Gewiss haben von dieser bis dato ungeahnten Multiplikation der Verbreitungsmöglichkeiten auch okkulte Inhalte profitiert. Dass die kaum durchschaubare Netz-Struktur selbst aber bereits okkulte Qualität habe, bedürfte wohl sorgfältigerer Erläuterung - und nicht bloß pauschaler Vermutung, denn viel mehr ist es nicht, wenn sich Doering-Manteuffel daran macht, die Internet-Enzyklopädie "Wikipedia" als "okkultistisches Medium" zu entlarven, da deren Beiträger ja anonym und die Informationsquellen im Dunklen blieben. Als okkultes Zeichen wertet die Autorin auch den Umstand, dass es von Wikipedia zu diversen Esoterikseiten nur wenige Mouseclicks seien.
Abgesehen von solchen Schwächen, da die Autorin Opfer ihres Themas zu werden droht, ist das Buch, als Ganzes genommen, ein durchaus geglückter Versuch, unseren Blick zu schärfen: Sabine Doering-Manteuffels Darstellung des Okkulten macht klar, dass die Rationalisierung und Entzauberung der Welt wahrscheinlich für alle Zeiten an uns selbst scheitern wird. Aber auch, warum vernünftige Menschen darüber keineswegs zu erschrecken brauchen.
Hör-Tipps
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Sabine Doering-Manteuffel, "Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web", Siedler Verlag
Link
Siedler Verlag - Das Okkulte