Der ganz normale Beziehungswahnsinn

Was sich liebt, das nervt sich

Jean-Claude Kaufmann ist Soziologe mit Fachgebiet Alltag, und darin insbesondere das Verhalten der beiden Parteien einer Paarbeziehung. In seinem neuesten Buch widmet sich Jean-Claude Kaufmann dem Ärger als Teil einer Paarbeziehung.

"Every Tom, Dick and Harry” heißt es im Englischen dann, wenn ganz einfach jedermann gemeint ist. Wenn von etwas die Rede ist, was alle tun. Wie zum Beispiel sich in Partnerschaften zusammenfinden, und dann heftige Konflikte austragen. Jean-Claude Kaufmann hat für sein Buch über den Ärger eine Vielzahl von Fallbespielen zusammengetragen. Es wimmelt nur so von Vornamen, die der Autor geändert hat, die aber doch auf realen Beispielen beruhen. In unzähligen Mini-Paar-Studien führt uns Jean-Claude Kaufmann den ganz normalen Beziehungswahnsinn vor Augen und erklärt die soziologischen Hintergründe.

In unserer aggressiven und destabilisierenden Gesellschaft fungiert die Paarbeziehung heute immer mehr als Instrument des Trostes und der Selbstvergewisserung. So erzählt man sich beim Abendessen am Tisch oft die kleinen Missgeschicke des Tages und ist sich des mitfühlenden Zuhörens und der therapeutischen Unterstützung des Partners gewiss. Aber dieses Streben nach Bequemlichkeit ist oft noch fundamentaler, sogar regressiv. Das Haus wird zum Ort, wo man sich, fern des ständigen Konkurrenzkampfes und der bewertenden Blicke der anderen, gehen lassen kann, hemmungslos die einfachsten Freuden genießen, die elementare Ungezwungenheit und das wohlige Gefühl finden kann, das das Sich-gehen-lassen bereitet.

Die Tücken des Alltags

Das gemeinsame Zuhause als Hort der Harmonie? Mitnichten! Der Zündstoff für Beziehungskonflikte liegt im Detail. Deshalb ist auf dem Cover von Jean-Claude Kaufmanns Buch auch eine offene Zahnpastatube abgebildet - pars pro toto für die Tücken des täglichen höchst privaten Interessenskonfliktes. Die Ärgerquellen, die Kaufmann anführt, rangieren von unterschiedlichen Ansprüchen an Sauberkeit und Ordnung im Haushalt, bis zu den Vorstellungen über die Möblierung der Wohnung oder über die Freizeitgestaltung.

Auf subtile und schwer greifbare Weise prallen in Gestalt der Beziehungspartner unterschiedliche Kulturen aufeinander, erläutert der Soziologe. Er schildert den "Kampf der Kulturen" zwischen Bett, Esstisch und Fernseher. Was erst, wenn das gemeinsame Projekt eines Paares die Erziehung eines Kindes ist? Und was, wenn das oder die Kinder aus dem gemeinsamen Haus ausziehen? Zündstoff für Ärger, bei aller Liebe.

Die Liebe ist eine lebendige Beziehung, die sich Tag für Tag verändert, und dies nicht notwendigerweise in Richtung des Niedergangs. Es gibt nichts, worum die zärtliche Großzügigkeit des Alters das Herzklopfen der Jugend beneiden müsste. Die Liebe ist auch eine konkrete Beziehung, die in den Gesten, Gedanken und winzigen Bemerkungen des täglichen Lebens verwurzelt ist. Sie ist nicht auf spezielle Momente des Alltags beschränkt.

Vor- und Nachteile von Routine

Der Alltag ist der Nährboden für eine Paarbeziehung, für die Liebe ebenso wie für den unvermeidlichen Ärger. Routine ist notwendig, um den Erfordernissen des Lebens zu begegnen. Leider gehören auch die ungeliebten Angewohnheiten des Partners zur Routine, und das bringt einen auf die Palme. Jean-Claude Kaufmann zeigt das anhand der Beispiele von der "schmutzigen Tasse im Spülbecken" oder des "Auftunkens der Soße mit dem Brot". Es sind zumeist die Frauen, die sich über das nicht erwünschte und immer wiederkehrende Verhalten ihrer Partner ärgern.

Interessanterweise identifiziert der Autor den Fahrstil als eines der seltenen Beispiele, bei denen sich Männer mehr ärgern als Frauen. Den Grund hierfür sieht Kaufmann darin, dass das beziehungskulturelle Phänomen vom "Mann am Beifahrersitz" relativ neu ist in einer Zeit sich rasch ändernder Geschlechter-Aufgabenverteilung.

Die Paarbeziehung ist ein Tanz, ein ständiger Tanz der Gegensätze, der Hitze und Kälte, Heftigkeit und Gelassenheit, Ordnung und Unterordnung, Disziplin und Spontaneität vereint.

Aus E-Mail-Korrespondenz zusammengetragen

Beim Lesen des Buches von Jean-Claude Kaufmann offenbaren sich unzählige Möglichkeiten, sich über den Liebespartner zu ärgern: Anlassfälle können verstreute Socken sein, zu langsames Essen, während des Austretens offen gelassene Klotüren und noch Hunderte weitere - teilweise haarsträubende - Kleinigkeiten. Kaufmanns Beobachtungen von Paarbeziehungen sind in flüssigem Stil geschrieben und gut aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt.

Spannend ist die Methode, die Kaufmann gewählt hat. Via Zeitungen und auf Veranstaltungen forderte er auf, ihm E-Mails über Beziehungsärger zu schicken. Die Ergebnisse der so entstandenen E-Mail-Korrespondenz bilden Kaufmanns Studien-Fälle. Zum Beispiel die Geschichte von Eline und Jack, die liiert sind und für das selbe Unternehmen arbeiten.

Eline: Die Diskussionen über unser Engagement für das Unternehmen, in dem wir arbeiten, sind oft für beide Quelle des Ärgers. Jack versteht nämlich nicht, dass ich nicht dieses langfristige Engagement für ein Unternehmen aufbringe und dass ich "nicht an es glaube". Ich dagegen verstehe seine Aufopferungsbereitschaft nicht und was für Folgen dieser "Korpsgeist" auf ihn haben mag.

Kleine Kriege

Im französischen Original lautet der Titel von Jean-Claude Kaufmanns Buch "Agacements. Les petits guerres du couple". Die Ärgernisse werden also als kleine Kriege der Paare angesprochen. Diese Wortwahl zieht sich durch das ganze Buch. Die Rede ist von Schlachten, von gegensätzlichen familiären Lagern, von Allianzen innerhalb der Familie und von Sieg und Niederlage. Es ist eine martialische Beziehungswelt, die Kaufmann ausbreitet. Und nur wenige finden individuelle Auswege. Eine, der das glückt, ist Malvina.

Malvina: Wir verbringen jedes dritte Wochenende bei seinen Eltern. Auf seinem Territorium ist er ein anderer: Nur die Meinungen seiner Mutter und seiner Freunde zählen. Das ärgert mich, denn ich muss ständig aufpassen, was ich sage, und das liegt nicht in meiner Natur. Um durchzuhalten, habe ich mir eine Off-Stimme erfunden. Wenn er herumschwadroniert oder ihrem dummen Zeug Glauben schenkt, kommentiere ich das in mir drin, oder ich feile an Erwiderungen herum, die ich vielleicht niemals aussprechen werde. Manchmal bin ich so konzentriert auf dieses kleine Spiel, dass ich nicht merke, wie das Essen vorbeigeht!!!

Schule der Toleranz

Über weite Strecken von "Was sich liebt, das nervt sich" scheint es unmöglich, aus der unvermeidlich zuschnappenden Beziehungsfalle in Gestalt von Zahnpastatuben und ähnlichen Lappalien zu entkommen. Der Soziologe zeigt ein ums andere Beispiel auf und analysiert die Verhaltensweisen. Doch schließlich charakterisiert Kaufmann die Paarbeziehung auch als eine Schule der Toleranz. Durch den Ärger werden Unstimmigkeiten bereinigt und die Basis für ein Wiederherstellen der Normalität in der Beziehung geschaffen. Und so schließt Jean-Claude Kaufmann noch viel detailreichem Unbill versöhnlich:

Die Liebe ist ein lebendiges Gefühl, das sich ständig weiterentwickelt, in jeder Sekunde; es ist absolut notwendig, dass man in jeder Situation daran arbeitet.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Jean-Claude Kaufmann, "Was sich liebt, das nervt sich", aus dem Französischen übersetzt von Anke Beck, UVK Verlag

Link
UVK-Verlag - Was sich liebt, das nervt sich