Die multioptionale Urlaubswelt von morgen
Tourismus 2020
Urlaub, das ist das andere Leben, fern der Zwänge des Alltags. Scheinbar zumindest. Im Urlaub meinen wir, ein Stück näher zu uns selbst zu kommen. Und zum vermeintlich guten, zum eigentlichen Leben. Das jedenfalls verspricht die Tourismusindustrie.
8. April 2017, 21:58
In den kommenden Jahren wird die Zahl der Reisenden drastisch ansteigen. Bis 2020 prognostiziert die UNWTO, die Welt-Tourismusorganisation der UNO, einen weiteren enormen Anstieg für die internationalen Ankünfte (bei denen mindestens eine Nacht in einem anderen Land verbracht wird).
Von 1,6 Milliarden ist da die Rede. Von rund 3,2 Milliarden "Bewegungen" also, zumal die allermeisten Angekommenen auch wieder abreisen. Gegenüber dem Jahr 1995 sind das mehr als doppelt so viele. Auf intraregionale Reisen werden davon 1,2 Milliarden entfallen, 378 Millionen auf den Langstreckenbereich.
Nicht zuletzt angesichts solcher Zahlen drängen sich für die Zukunft des Tourismus entscheidende Fragen auf. Auch und vor allem deshalb, weil die Reiseindustrie in vieler Hinsicht mit nahezu allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens ganz unmittelbar und vielfältig verwoben ist.
Ausgleich und Gegensatz zugleich
Der Tourismus ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Nicht selten lassen sich an touristischen Trends frühzeitig diffizile und komplexe Entwicklungen der Gesellschaft ablesen. Derzeit verstärke sich der Trend vom Erholungstourismus zum Entfaltungstourismus. Es ginge zunehmend darum, im Urlaub vermehrt "Sinn" zu finden.
Bisher war die Welt des Tourismus gewissermaßen die Komplementär-Welt zu der des Arbeitsalltags. Für Peter Zellmann, den Leiter des Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung, wird diese Trennung in ein Entweder-Oder jedoch zunehmend der Vergangenheit angehören.
Urlaub wird Ausgleich und Gegensatz zugleich sein. Er wird sich in grenzenloser Mobilität ereignen. Und er wird die Natur immer mehr und immer weiter inszenieren.
"Reisemotive werden sich immer mehr miteinander verlinken." Davon ist Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx überzeugt. "Arbeit, Leben, Spiel, Freizeit, Spaß - diese früher getrennten Bereiche gehen nun eher ineinander über." Zumindest im Segment des Qualitäts-Tourismus werden Bildung, Lernen oder Gesundheit in Verbindung mit Urlaub eine immer größere Rolle spielen.
Für jeden etwas
Fest steht: Es wird nichts geben, was es nicht gibt. Gerade im Tourismus. Und stets wird ein Trend zugleich auch sein Gegenteil hervorbringen. Während in Dubai hyperkünstliche Ressorts entstehen, steigt anderswo gleichzeitig der Wert des langsam Gereiften und Gewachsenen.
Während es den einen zwischen Ischgl und Ibiza nicht laut und rummelig genug sein kann, zahlen andere längst hohe Preise für den Luxus handyfreier Ruhezonen.
Und die Palette an immer exotischeren, extremeren Erlebnis- und Abenteuerreisen auf der einen Seite hat der Renaissance der guten alten Sommerfrische beileibe keinen Abbruch getan.
Kleine Zielgruppen
"Was wir erleben ist ja in der gesamten Gesellschaft eine Differenzierung und Individualisierung von Lebensformen." betont Matthias Horx. Seiner Meinung nach liegt die Zukunft des Tourismus im Qualitätstourismus. "Und zwar in Qualität, die in sehr, sehr vielen kleinen Zielgruppen definiert ist."
Konkret: Kreuzfahrten mit Stadtbesichtigungen per Mountainbike; Rom erkunden in der Jogging-Gruppe, mit italienischer Führerin; Dialyse-Kreuzfahrten; Wohnen im Hotel aus recycelten Materialien; Wohnen in abgelegenen Almhütten - ohne Wasser, aber mit Internetverbindung; individuelle Reisen mit dem Rucksack, die aber doch organisiert sind ... die Liste ließe sich unendlich fortsetzen.
Wie das Internet den Tourismus beeinflusst
Längst spielt bei den Entwicklungen im Tourismus auch das Internet eine entscheidende Rolle. Bereits heute hat es die Reiseindustrie radikal verändert, und in den kommenden Jahren wird es das noch mehr tun.
In vieler Hinsicht hat das Internet die potentiellen Touristen massiv "empowered". Es hat sie ermächtigt, sich in kürzester Zeit eine Fülle an touristischen Informationen zu beschaffen. Das Internet ermöglicht umfassende Vergleiche von Urlaubszielen und Hotels, von Preisen und Angeboten, und es tut das direkt und unmittelbar.
Grenzenloses Werben und Reisen
Umgekehrt eröffnet das Internet auch touristischen Anbietern, die sich bisher Werbung und Marketing nicht leisten konnten, zahlreiche Möglichkeiten. So kann auch der Oberkärntner Bergbauer mit ganz geringem Aufwand seine Gästezimmer bewerben, und zwar weltweit und direkt, ohne kostspielige Zwischenhändler. Und die Arbeiterfamilie aus Brandenburg kann genau die steirische Almhütte finden, die ihren Urlaubsbedürfnissen und ihrem Budget entspricht.
So gesehen wird das Internet in Zukunft wohl auch eine Rolle dabei spielen, Regionen am gigantischen globalen Tourismusmarkt teilhaben zu lassen, die heute noch weitgehend von ihm ausgeschlossen sind. Denn bei aller Internationalisierung ist der Massentourismus doch immer noch ein höchst unegalitäres Phänomen.
Neue Reisende
Im "Atlas der Globalisierung" von "Le Monde Diplomatique" aus 2005 finden sich diesbezüglich folgende Fakten: "80 Prozent des weltweiten Binnen- und Auslandstourismus gehen von den Großstädten Westeuropas und Nordamerikas aus. Reiseziel der Touristen aus den reichen Ländern sind im Wesentlichen sechs Großräume: die europäischen Mittelmeerländer (25 Prozent), die Karibik (20 Prozent), Südostasien (15 Prozent), West- und Mitteleuropa (20 Prozent) sowie der amerikanische Nordosten und Kalifornien (15 Prozent). Die große Mehrheit der Touristen steuert nur rund 50 Orte an."
Das wird sich ändern. In Zukunft werden wohl auch vermehrt und in großer Zahl jene Brasilianer, Russen, Inder und Chinesen reisen wollen, die man mittlerweile in ihren Ländern zum neuen, relativ wohlhabenden Mittelstand zählt - einige hundert Millionen Menschen.
Stark wachsen, auch das steht außer Zweifel, wird in Zukunft weiters der Anteil älterer Reisender. Im Jahr 2050 wird beinahe jeder dritte Österreicher und Deutsche über 60 Jahre alt sein. Das ist eine Tatsache, die massive Auswirkungen haben wird. Auch auf das Urlaubs- und Reiseverhalten.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 9. Juni bis Donnerstag, 12. Juni 2008, 9:05 Uhr
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