Die Teile und ihre Summe

Sieben Seiten der Wahrheit

Ein Kind wird entführt. Das ist ein beliebtes Sujet, um die Bedrohung der heilen Welt durch die kranke Psyche von geldgierigen Kidnappern, unfruchtbaren Hysterikerinnen oder gewissenlosen Pädophilen heraufzubeschwören. Es geht aber auch anders.

Die staatliche Eingriffe befürwortende Wirtschaftsprogramme des Keynesianismus, denen Perlman gegenüber neoklassischen Modellen den Vorzug gibt, haben nach dem zweiten Weltkrieg eine blühende Mittelschicht hervorgebracht. Dass diese zu immer größeren Teilen weg bricht liege nicht an unabänderlichen ökonomischen Gesetzen, sondern an einer Ideologie, die nicht mehr hinterfragt wird. Und in schönster dialektischer Manier beschwört Perlman das Umkippen der grenzenlosen Freiheit des Marktes und der Konsumenten in ihr Gegenteil.

Der charmante und gut aussehende Dreiundvierzigjährige, der im Anschluss an seine Lesung alle Fragen geduldig und freundlich beantwortet, hat seine Thesen über die fundamentalistische Ideologie des freien Marktes gut überlegt. Neben dem Jusstudium für die Arbeit als Anwalt hat er auch noch Wirtschafts- und Politikwissenschaften studiert, um einen Begriff davon zu bekommen, wie die Welt funktioniert.

Am meisten aber profitierte er von seiner Teilnahme an Gerichtsprozessen. Denn dabei bekam er einen Begriff davon, wie weit man Tatsachen im Sinne seiner Klienten auslegen und wiedergeben kann und sogar muss, ohne sich eine einzige Lüge zu erlauben. Deshalb richtet sich wohl seine Kritik in erster Linie gegen die Politische Alternativlosigkeit: Mit dem Bonmot, dass die Geschichte den liberalen Tony Blair als den größten Erfolg der konservativen Premierministerin Margret Thatcher beurteilen wird, hat Perlman in der Diskussion die Lacher auf seiner Seite.

Auf der Suche nach dem richtigen Weg
Simon, der verlassene Liebhaber und entlassene Lehrer, der sein Leben sinnvoll zu gestalten versucht, der seinem Professor widerspricht, statt folgsam den Lehrstoff herunterzuleiern, und der schließlich in einer Kurzschlusshandlung den Sohn seiner Exfreundin mit nach Hause nimmt, ist eine der moralischen Instanzen des Buches. Eine andere ist Alex Klima, sein Psychiater. Aber auch Joe, der Börsenmakler, dessen Buben Simon entführt hat oder Angelique, die Edelprostituierte, die die beiden Männer zu ihren Kunden zählt, versuchen, den richtigen Weg zu finden.

Der Kunstgriff des perspektivischen Erzählens, in dem sieben Personen nach einander den Fortgang der Geschichte aus ihrer Sicht beschreiben, ermöglicht es dem Autor und mit ihm seinen Lesern und Leserinnen, einen eigenen Standpunkt zu gewinnen, der von Verständnis für die Handlungen der Beteiligten getragen ist. Und schließlich offenbaren sich neben den alltäglichen Missverständnissen die tiefen Geheimnisse, die die Figuren bis dahin vor sich selbst verborgen gehalten haben.

In "Die sieben Seiten der Wahrheit" lässt der australische Autor Elliot Perlman seine Leser den Blick aus sieben Perspektiven auf eine Entführung werfen. Und dabei geht es nicht um den Thrill, ob Lösegeld bezahlt wird, Sex stattgefunden hat oder ob das Kind lebendig oder tot geborgen wird, sondern um die Frage nach dem geglückten Leben, die für alle direkt oder indirekt Betroffenen angesichts der Grenzsituation virulent wird.

Vielleicht geht es noch ein bisschen darum, ob der sympathische Entführer, der den Kleinen nur auf eine Schokolade einladen wollte, den Mühlen der Justiz entkommt. Vielleicht auch darum, ob Anna ihren Mann verlassen wird. Sicher aber darum, ob inmitten des Unglücks Glück möglich ist. Einem Unglück, das nicht kommt wie der Regen, sondern das auch oder gerade in der säkularisierten Welt in vielen Formen einer Ideologie geschuldet ist.

Das Buch der Woche ist eine Aktion von Ö1 und der Tageszeitung Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 20. Juni 2008, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 22. Juni 2008, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Elliot Perlman, "Sieben Seiten der Wahrheit", DVA

Link
DVA - Sieben Seiten der Wahrheit