Friedrich Cerhas "Spiegel"

Seltene Gesamteinspielung

Friedrich Cerhas Orchesterzyklus "Spiegel" ist ein Klassiker der Nachkriegsmoderne, der nur selten zur Gänze aufgeführt wird - im Jahr 2006 dafür gleich zweimal. Das Wien-Modern-Konzert mit Sylvain Cambreling und dem SWR-Sinfonieorchester sendet Ö1 am Sonntag.

Es ist ein schillerndes Juwel aus der jüngeren Aufführungsgeschichte österreichischer Musik, die Interpretation der Komposition "Spiegel I - VII" von Friedrich Cerha durch das SWR Sinfonieorchester mit dem Dirigenten Sylvain Cambreling. 2006 bei den Bregenzer Festspielen als Eröffnung und später dann auch bei Wien Modern - woher die Aufnahme des Ö1 Konzertabends am Sonntag stammt - stand diese erste Gesamtaufführung des faszinierenden Klangkosmos auf dem Programm, die nicht der Komponist selbst dirigierte. Einzelne Teile dieses Werks wurden und werden des öfteren gespielt, eine Gesamtaufführung dieses eineinhalb Stunden langen akustischen Vexierbildes ist selten.

Mit Cerhas Wohlwollen

Als Sylvain Cambreling sich des Werks annahm, waren die Erwartungen hoch, denn dieser Dirigent hat den Ruf, mit der Organisation von Klangfarbenverläufen besonders virtuos umgehen zu können, und es wurden tatsächlich beeindruckende Konzertabende. Selbst Friedrich Cerha merkte in seiner bekannt trockenen Art dazu an, die "Spiegel" im Gesamten zu dirigieren sei "eine enorm große und schwierige Aufgabe, aber die Aufführung ist sehr gut geworden".

Epochales Werk
Die Spiegel von Friedrich Cerha, das ist einer der Meilensteine der österreichischen Moderne der der zweiten Hälfte des 20. Jahhrunderts, gerade weil dieses heute so faszinierende Funkeln und Glitzern der Orchesterklänge, dieses Verwandeln von Phänomenen wie Dichtheitsgraden oder Pulsation in Musik damals gänzlich neu war.

Avantgarde oder Moderne konnte in und seit den 1950er Jahren Vieles bedeuten: Die Radikalität von Unbestimmtheit und Aleatorik in Auseinandersetzung mit Cage; oder die strenge Struktur von Serialismus und Darmstadt; oder improvisatorische Ansätze; oder graphische Notation und intermediale Aufbrüche, oder auch Fluxus und Happening. Und in all das hinein begannen die Komponisten György Ligeti und Friedrich Cerha vorerst unabhängig voneinander sich auf den organisierten Klang als solchem zu konzentrieren, auf die sogenannten Klangflächen, eigentlich aber auf ständig sich verändernde, changierende Klangbänder, denen im Falle von Friedrich Cerha eine unheimliche dunkle Energie innezuwohnen scheint.

Irisierende Klangschwärme
Es ist nicht das Auffächern der Klangfeinheit als solcher, die ihn zu interessieren schien, es ist eher das Aufspüren der verborgenen Energie und Gewalt, letztlich eigentlich ein expressives Konzept mit damals gänzlich neu erfundenen Mitteln. Und so können irisierend funkelnde Klangschwärme langsam aber unaufhaltsam umkippen in mitleidslos vorwärts drängende Pulsation.

Sylvain Cambreling ist nach Friedrich Cerha selbst erstaunlicherweise der erste, der den gesamten Zyklus dirigiert hat. Und Cambreling vergleicht die "Spiegel" mit Malereien von Jackson Pollock: Wie Pollocks Liniengewirre die Bildflächen förmlich vibrieren lassen, so sind Cerhas scheinbar statische Klangflächen von innen heraus dynamisch belebt.

Cerha selbst, so kann man vermuten, sieht sich und seine kunstvoll gebauten beweglichen Spiegelwände wohl weniger in der Tradition des action-haften Drip-Paintings; da ist viel zu viel real Gemeintes und durchaus konkret Formuliertes in diesen expressiv sich aufbäumenden und zusammenballenden Klangtürmen und Farborgien. Cerha selbst merkte einmal an, wenn er selbst die "Spiegel" heute höre, dann erkenne er, dass sie nicht möglich gewesen wären ohne die schrecklichen Erlebnisse des Kriegs. Was zum Abschluss dieser Anmerkungen noch zum Titel des Stücks führt.

Tiefere Bedeutung
"Spiegel" bezieht sich einerseits auf die Struktur des Werks, die sieben Teile haben eine vage spiegelförmig-symmetrische Struktur, vor allem aber bezieht sich Spiegel ebenfalls auf Cerhas Lebenserfahrung. Zitat: "Einmal sollte dieses Stück ein Spiegel meines damaligen musikalischen Denkens sein, und - obwohl das jetzt vielleicht ein wenig hoch gegriffen ist - auch ein Spiegel der Entwicklung des menschlichen Wesens. Der Anfang des ersten Teils ist ja sozusagen ein Ur-Anfang".

Hör-Tipp
Aus dem Konzertsaal, Sonntag, 29. Juni 2008, 19:30 Uhr

Mehr zu Friedrich Cerha in oe1.ORF.at