Wunderwerk der Natur
Das Auge
Wie wird Licht in Information umgewandelt? Welchen Nutzen haben Farben? Und: Wie sehr ist unser Denken durch die Art unseres Sehens beeinflusst? Antworten darauf gibt Simon Ings in seinem Sachbuch, das unserem wichtigsten Sinnesorgan gewidmet ist.
8. April 2017, 21:58
Licht trifft auf ein Stäbchen in meinem Auge und bleicht das Pigment darin. Eine Sequenz chemischer Ereignisse schließt die "Ionenkanäle" des Stäbchens – Proteine, die einen elektrischen Impuls durch die Zellen leiten. Wenn die Ionenkanäle geschlossen sind, wird die Produktion eines bestimmten chemischen Stoffes, des Glutamats, eingestellt. Dieses plötzliche chemische "Schweigen" regt eine benachbarte Nervenzelle an und bringt sie zum "Plaudern". Informationen wandern von Nachbar zu Nachbar, von Nervenzelle zu Nervenzelle: der Beginn des Sehens.
Natürlich funktionieren nicht alle Augen auf diese Weise. Es gibt lichtempfindliche Mechanismen aller Art, die sich höchst unterschiedliche chemische Reaktionen zunutze machen. Obwohl die meisten Lebewesen ohne Augen hervorragend zurecht kommen, reagieren doch fast alle auf zumindest primitive Lichtwahrnehmungen. Sogar Taubenküken, denen man den Kopf verhüllt, sind in der Lage, das Licht mit Kopfwackeln und Strecken der Beine zu begrüßen.
Kommunikationsfähige Körperteile
Je organisierter und zentralisierter das Nervensystem eines Tieres, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Lichtsinn durch eine höher entwickelte Struktur im Gehirn ersetzt worden ist. Das Auge ist also kein isoliertes zufälliges Wunder, sondern einfach das spektakulärste lichtempfindliche Organ. Doch für uns Menschen sind sie weit mehr als das. Sie haben sich zu vermittelnden, kommunikationsfähigen Körperteilen entwickelt. Riesige, starre und unpersönliche Insektenaugen gehören nicht zufällig zum Repertoire schauriger Science-Fiction-Filme und Horror-Fantasien.
Komplexaugen wie etwa bei Fliegen, sehen nicht nur gänzlich anders aus als unsere Augen, sondern sehen auch anders. Sie wirken zwar plump und sind relativ zur Körpergröße sehr groß, haben aber den unschätzbaren Vorteil, damit praktisch ohne toten Winkel in jede mögliche Richtung gleichzeitig sehen zu können. Scharfes Sehen wäre für Insekten purer Luxus. Zum Überleben reicht es völlig, Bewegungen einzuschätzen und die Größe von Beute oder Feind rastermäßig erfassen zu können.
Erstaunliche Spezialisierung
Je größer Lebewesen sind, desto weniger Kraft haben sie im Verhältnis zu ihrem Gewicht. Doch zumeist ernähren sie sich hauptsächlich von Tieren, die kleiner sind als sie, also müssen sie schärfer sehen. Die Feinde wiederum sind zumeist größer, weshalb es lebensnotwendig ist, sie aus großer Entfernung erkennen zu können.
Menschen verfügen darüber hinaus über eine Fähigkeit, die bei Wirbeltieren selten ist: Sie können die Welt in "dieses" und "jenes" unterteilen und sie können Objekte aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und sie dennoch erinnern - eine erstaunliche Spezialisierung im Hinblick auf die Identifizierung von Dingen. Und: Wir müssen nicht einmal alles sehen, um alles verstehen zu können.
Unser Auge ist uns voraus
Überlegen Sie einmal, was mit Ihrem Kopf geschehen ist, damit Sie in der Lage sind, einen Satz zu lesen. Wenn wir lesen, fixieren unsere Augen zwischen zwanzig und siebzig Prozent der Wörter. Wer oder was sagt unseren Augen, welche Wörter sie auswählen sollen? Wo sitzt dieses Wissen? Woraus besteht es, wo ist es gespeichert, und wie wird darauf zugegriffen?
Mit Hilfe eines Eye-Tracking-Systems hat der amerikanische Forscher Michael Land entdeckt, dass unser Auge unseren Handlungen permanent um zirka eine halbe Sekunde voraus ist. Wenn ein Autofahrer eine Kurve fährt, übermittelt sein Auge sogar eine Sekunde, bevor eine Muskelbewegung erforderlich ist, motorische Informationen an seine Arme. Land fand heraus, dass dieses "Wahrnehmungslernen" keine hochentwickelte Hirnleistung, sondern eine überraschend einfache Angelegenheit ist, die das Auge befähigt, prägnante Merkmale zu erkennen und auf sie zu reagieren, noch bevor sie in unser Bewusstsein gelangen.
Mit den Augen sprechen
Simon Ings' chemische, optische, psychologische und anthropologische Spurensuche ist gespickt mit verblüffenden Erkenntnissen. Eines der interessantesten Kapitel beschäftigt sich mit der Kommunikationsfähigkeit des Auges. Jedes Auge hält Ausschau nach anderen Augen. Im Tierreich kann Augenkontakt tödlich sein, weil die Beute dem Räuber bedeutet: "ich lebe". Augen auf Pfauenfedern oder auf Schwanzflossen sollen den Fressfeind verwirren. Kaum ein Tier riskiert es, seine echten Augen besonders hervorzuheben.
Für Menschen hat das Auge eine noch größere Bedeutung. Simon Ings weist anhand von Studien mit autistischen Patienten nach, dass wir uns die Fertigkeit, Mensch zu sein, vor allem durch unseren Umgang mit unseren Augen selbst beibringen. Wir blicken Gesichter nicht nur an, wir deuten und durchschauen sie auch. Während wir uns aber von falschem Lächeln oder irritierenden Grimassen täuschen lassen, verraten Augen unsere innere Verfassung, ob wir es wollen oder nicht. Denken wir nur ans Weinen. Es lässt sich sogar von Schauspielern nur schwer vortäuschen.
Mit seinem kurzweiligen Mix aus Geschichte, Wissenschaft, Anekdoten und persönlichen Erfahrungen etwa über die Bedeutung von Farben, die Zusammensetzung der Netzhaut, die Historie der Sehforschung und vor allem die Zukunft des Sehens schafft es der Brite, dem Thema anhaltenden Glanz zu verleihen. Je mehr man sich in die Materie vertieft, desto öfter stellt man fest, wie wenig man bisher über das wichtigste Sinnesorgan gewusst hat, wie selbstverständlich man seine Existenz nimmt und wie sehr man dem "Lichttransformator" vertraut.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Simon Ings, "Das Auge. Meisterstück der Evolution", aus dem Englischen übersetzt von Hainer Kober, Verlag Hoffman und Campe
Link
Hoffmann und Campe - Das Auge