Flamen und Wallonen

Der Kummer von Belgien

Hugo Claus hat es durchaus darauf angelegt, dass sein Roman auch autobiografisch verstanden werde, denn hin und wieder sind Textstellen in der Ich-Form geschrieben. Behandelt wird dabei auch der permanent schwelende Konflikt zwischen Flamen und Wallonen.

Angeblich war Hugo Claus als Kind von seiner Großmutter wegen seines Ungestüms und seiner Widerspenstigkeit oft tadelnd-besorgt als "der Kummer von Belgien" bezeichnet worden – und offenbar hatte er sich davon zum Titel für seinen Roman inspirieren lassen. Ein solcher biografischer Konnex scheint durchaus plausibel zu sein, steht doch im Mittelpunkt des Buches ein Junge, der sehr viel mit dem Verfasser gemeinsam hat.

Das beginnt beim exakten Geburtsdatum: Sowohl der Protagonist, Louis Seynaeve, als auch Hugo Claus sind am 5. April 1929 geboren. Autor wie Romanfigur verbringen einen wesentlichen Teil der Schulzeit als Zöglinge in einem katholischen Ordensinternat, beider Väter sind im Druckergewerbe tätig, beide versuchen sich früh als Schriftsteller.

Ein Schelm

Dass es Hugo Claus durchaus darauf angelegt hatte, dass sein Roman - zumindest teilweise - auch autobiografisch verstanden werde, lässt sich an jenen kurzen Einschüben in der Ich-Form erkennen, die hin und wieder im Text auftauchen. Der auktoriale Erzähler berichtet von Louis - und plötzlich wird der Erzählfluss für kurze Zeit (oft nur einen Halbsatz lang) in der ersten Person weitergeführt, um dann sofort wieder in die dritte überzugehen.

Diese Gestaltungsform legt die Vorstellung einer sehr privaten Erzählsituation nahe: Da sitzt einer, der gemächlich und breit (immerhin umfasst der Roman über 800 Seiten) erzählt, wie sich ein Junge mit viel Naivität und einiger Gerissenheit durch die Kriegszeit schlägt - und dabei lässt dieser Erzähler immer wieder (sozusagen augenzwinkernd) wissen, dass dieser Junge, dieser Schelm, eigentlich er selbst gewesen sei.

Viele Einzelepisoden

Eine ausschließliche Deutung als Schlüsselroman allerdings greift zu kurz und wird vor allem der weit über das Autobiografische und die regionale Begrenztheit hinausgehenden Bedeutung des Werkes nicht gerecht werden. Der schon erwähnte "Schelm" hingegen trifft die Sache schon besser, denn die Erlebnisse des Louis Seynaeve gehören eindeutig in die Kategorie des Schelmenromans - und sowohl der Simplicissimus als auch der Blechtrommler sind enge literarische Verwandte.

"Der Kummer von Belgien" spielt in den Jahren unmittelbar vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg - also in etwa zwischen dem neunten und dem 17. Lebensjahr des Protagonisten. Allerdings gibt es keine durchgehende Handlung im traditionellen Sinn, sondern der Text besteht aus einer Vielzahl von Einzelepisoden. Da wird etwa erzählt, wie Louis im Internat mit ein paar Freunden einen Geheimbund bildet, wie dabei Neulinge einige recht harsche Initiationsriten zu durchlaufen haben, und wie die Knaben den Klosterschwestern mit zahlreichen Streichen zusetzen.

Zuhause, in den Ferien, trifft Louis auf exaltierte Tanten und großsprecherische Onkel, er freundet sich mit Zigeunerkindern an und macht erste sexuelle Erfahrungen.

Konflikt zwischen Flamen und Wallonen

Vor allem aber erlebt er, wie seine Familie durch die politische Entwicklung entzweit wird: da sind die einen, die mit Hitlerdeutschland sympathisieren, wie sein Vater, der sich als flämischer Nationalist gibt und vom germanischen Reich träumt; und da sind die anderen, wie etwa der dominante Großvater, der seine anti-deutsche und pro-französische Haltung sehr vehement vertritt. Da gibt es Denunziation und Verrat, Kollaborateure und vereinzelte Widerständler, und vor allem wird in dieser Situation der permanent schwelende Konflikt zwischen Flamen und Wallonen überdeutlich - auch das, so wird klar, ist unter dem "Kummer von Belgien" zu verstehen.

Der Erzähler verzichtet auf alles Moralisieren und enthält sich jeglicher ideologischer Stellungnahme, sondern vermittelt jeweils gerade die Sicht auf die Geschehnisse, die dem jeweiligen Entwicklungsstand der Hauptperson Louis entspricht. Dies ermöglicht eine große Unbefangenheit im Erzählen, und gerade weil der Junge vieles in seiner Naivität nicht versteht - sei es im politischen oder auch im sexuellen Bereich - wird das Bild der Realität, das hier gezeichnet wird, um so krasser, deutlicher und tabuloser.

Hugo Claus hat mit "Kummer von Belgien" ein gewaltiges, fast barock anmutendes Panorama entworfen - und es ist überaus erfreulich, dass dieses Werk zwei Jahrzehnte nach der ersten, eher misslungenen Übersetzung nun in einer dem Original absolut adäquaten deutschsprachigen Version vorliegt.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Hugo Claus, "Der Kummer von Belgien", aus dem Niederländischen übersetzt von Waltraud Hüsmert, Verlag Klett-Cotta

Link
Verlag Klett-Cotta - Hugo Claus