Erb, Munteanu, van der Walt
Was ist an einem lyrischen Tenor lyrisch?
Alles was wir von einem lyrischen Tenor verlangen - Legatoberherrschung, Farbenreichtum, perfekten Registerausgleich, Weichheit in der Tongebung - muss von einem dramatischen Tenor verlangt werden. Denn sollte es auch einen unlyrischen Tenor geben?
8. April 2017, 21:58
Die Erinnerung an die drei lyrischen Tenöre Karl Erb, Petre Munteanu und Deon van der Walt ist ein guter Anlass, einmal generell über den Begriff "lyrischer Tenor" nachzudenken und ebenso über den oft inflationär gebrauchten Begriff "Belcanto". Belcanto - im engsten Sinne - fordert eine vollkommene Tongebung, perfektes Legato, Messa di voce (das An- und Abschwellen des Tones), Appoggiaturen und Portamenti, Koloraturen, Fiurituren und so weiter.
Belcanto ist sozusagen die Basis jedes Kunstgesanges und daher auf jede Stimmlage anzuwenden. Ähnliches gilt auch für die Bezeichnung lyrisch, oder sollte es auch einen "unlyrischen Tenor" geben? Alles was wir von einem lyrischen Tenor verlangen, also Legatoberherrschung, Farbenreichtum, perfekten Registerausgleich, Weichheit in der Tongebung et cetera, muss ganz genau so von einem dramatischen, einem Heldentenor verlangt werden, wenn man hier auch oft zu Kompromissen gezwungen wird. Vereinfacht gesagt zeigt sich der Unterschied zwischen lyrischem und Heldentenor eigentlich nur in der Lautstärke.
Schubladen-Denken
Nicht immer waren diese Einteilungen so strikt und in Schubladen abgelegt wie heute. Der 1877 geborene Karl Erb ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie individueller in früheren Zeiten an diese Problematik herangegangen wurde. Oder kann man sich heute vorstellen, dass ein dreißigjähriger Postbeamter, der privat in einem Amateurchor singt, von einer gastierenden Operntruppe entdeckt und sofort groß herausgestellt wird - ohne eine einzige professionelle Gesangsstunde.
Trotzdem hat Karl Erb in der Folge rund ein halbes Jahrhundert lang Karriere gemacht, noch als 80-Jähriger gesungen, bis er schließlich an seinem 81. Geburtstag gestorben ist, vor 50 Jahren, am 13. Juli 1958.
Repertoire ohne Grenzen
Dabei war Erbs Opernrepertoire in den ersten zwei Jahrzehnten seiner Laufbahn für heutige Begriffe unvorstellbar. Keine Frage, dass er mit seiner hohen, androgynen Stimme auch heute als Mozart-Tenor hätte reüssieren können.
Aber Manrico und Rodolfo, Siegfried, Tannhäuser und Parsifal, Raoul in den Hugenotten, Florestan? Noch dazu unter Meisterdirigenten wie beispielsweise Bruno Walter, der damals Musikchef in München gewesen ist?
Geschmacks-Reglement
Das war natürlich nur in Zeiten möglich, als nicht jeder Opernbesucher seine plattenreife Wunschinterpretationen im Kopf hatte, besiegelt von mehr oder weniger kompetenten Kritikerpäpsten.
Der Geschmack wurde ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts streng reglementiert - Ausnahmen ausgenommen, wie beispielsweise Cecilia Bartoli - und wirkliche Überraschungen gibt es meist nur auf eher nebensächlichen Schauplätzen - Stichwort: Opernregie und Bühnenbild.
Raffinement gegen Lautstärke
Die Generationen nach Erb hatten es da weit schwerer, nicht nur dass die Orchester immer lauter wurden und noch dazu möglichst hoch gestimmt, mit der Lautstärke gingen auch die interpretatorischen Feinheiten verloren, was sich nicht zuletzt aus Kritiker-Zitaten gut ablesen lässt.
Kann man etwa in Besprechungen aus den 1920er Jahren noch einen halben Absatz über ein hohes B in der Blumenarie lesen, so begnügt man sich in unseren Tagen mit einem "höhensicheren Don José", einer "leidenschaftlichen Violetta" oder einem "ausladenden Falstaff".
Vorbild Tito Schipa
Schon der zweite unserer heutigen Tenorriege, der 1916 geborene Rumäne Petre Munteanu, dessen Aufnahmen Jahrzehnte vergessen waren und heute eine Renaissance erleben, machte es sich in seinen Anfängen selbst schwer.
Fasziniert von den Platten seines großen Vorbildes Tito Schipa zögerte er bewusst sein Bühnendebüt heraus, weil er der Meinung war, erst als perfekte Schipa-Kopie reüssieren zu können. So debütierte er schließlich statt als belcantesker Almaviva in Rossinis Barbier, als Cavaradossi (!) in Puccinis Verismo-Reißer Tosca.
Mozart-Tenor aus Kapstadt
Der dritte im Bunde - der 1958 in Kapstadt geborene Deon van der Walt - machte seine Karriere hauptsächlich als Mozart-Spezialist, gefördert von Pulstars wie Nikolaus Harnoncourt, Riccardo Muti oder Sir Georg Solti.
Die Züricher Oper wurde schließlich sein Stammhaus, die Schweiz sein Wohnsitz, trotzdem wollte er sich in seiner alten Heimat Südafrika ein zweites Standbein schaffen - mit einem eigenen Weingut. Während er in aller Welt herumtourte, sollte seine Familie das Gut bewirtschaften.
Letales Ende
Doch es dauerte nicht allzu lange und plötzlich war man sich über die eingeschlagenen Ziele nicht mehr einig, der Streit eskalierte und endete mit zwei Toten. Am 29. November 2005 wurde Deon van der Walt von seinem eigenen Vater erschossen, der sich danach selbst gerichtet hat.
Merkwürdigerweise hat sich in diesem Fall aber das nach einem so frühen und spektakulären Tod oft beobachtete Phänomen eines schlagartigen Popularitätsschubs nicht eingestellt, eher im Gegenteil. Keine CD-Sonderauflagen, keine Archivausgrabungen... Trotz großer internationaler Karriere inklusive MET, Scala und so weiter scheint Deon van der Walt nach nicht einmal drei Jahren vergessen. Auch auf der Webseite seines Weingutes gibt es keinerlei Hinweis auf seinen tenoralen Gründer.
Hör-Tipp
Apropos Oper, Dienstag, 29. Juli 2008, 15:06 Uhr
Link
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