Die Welt im Supermarkt

Kollateralschaden

Olga Flor siedelt ihren neuen Roman in einem Supermarkt und dessen Umgebung an. Die Zeitspanne beträgt genau eine Stunde. Die Autorin zeigt sich als genaue Beobachterin, der nichts entgeht, was unsere heutige Gesellschaft ausmacht.

"Kollateralschaden" in "Ex libris"

Die allgemeine Terrorangst und -hysterie, die seit 9/11 auf den Rest der Welt übergegriffen hat, hat Olga Flor zu ihrem neuen Roman inspiriert, und in einem Kollateralschaden mündet die Hysterie letztendlich. Es ist eine Groteske, mit der Olga Flor die Absurdität der Angststimmung in der Gesellschaft vor Augen führt.

Beginn: 16:30 Uhr

Olga Flor siedelt ihren Roman in einem Supermarkt und dessen Umgebung an, wo Menschen einander zufällig begegnen und miteinander interagieren - ein Ort, der sie in seiner Profanität überaus interessiert hat - zumal Einkaufszentren und Supermärkte immer mehr die Funktionen öffentlicher Räume übernehmen.

War das Geschehen in Olga Flors Roman "Talschluß" noch auf drei Tage konzentriert, so verknappt sie diesmal auf exakt eine Stunde, die Zeit zwischen 16:30 Uhr und 17:30 Uhr. Jede Minute ist ein Kapitel. Minute für Minute führt sie die Fäden der einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten zusammen, und legt gleichzeitig deren innere Gedankenwelten und Monologe frei, die parallel zueinander und gleichzeitig ablaufen, lässt den Stream of Consciousness fließen.

Damit das Konzept von Parallelität und Gleichzeitigkeit funktioniert, hat sich Olga Flor einen genauen Plan gemacht, und vorweg akribisch konstruiert, welche Figur in Minute x was denkt, was tut, sich wo befindet.

Extreme Verdichtung

Die kühle Analyse ist etwas, das in den Texten der 1968 geborenen Autorin und Physikerin immer wiederkehrt und bei ihr Literatur mit den Naturwissenschaften verbindet. Wieder einmal zeigt sich die Autorin auch in "Kollateralschaden" als die genaue Beobachterin, der nichts entgeht, was unsere heutige Gesellschaft ausmacht. Auch diesmal gelingt es ihr, durch extreme Verdichtung eine bestimmte Grundstimmung herauszuarbeiten. "Angstlust" nennt Flor diese Stimmung.

"Kollateralschaden" hat Tempo, hat Drive, der Text zieht, wird visuell, Filmszenen laufen ab. Um exakt 17:18 Uhr passiert es. Da beginnt die Tour de force durch die Supermarktregale.

Dann also das bisschen Anlauf und mit zwei Schritten über die Krapfen, keine Schaumrollen heute, nur Krapfen, dann hinauf, und die Muskeln arbeiteten glatt, kraftvoll und sauber, brachten ihn hinauf, und Mo hörte: bring your friends. Und alles nahm seinen Lauf, es lief prächtig, genau, wie das sein sollte, und er hörte: fun. Und genau das hatte er vor, das würde er tun, jetzt hielt ihn nichts und niemand mehr davon ab, das war seine Aufgabe, das lag jetzt vor ihm: fun. Und das erste Tal und er sah nicht links und nicht rechts und spürte doch, dass Bewegung in den Laden gekommen waren, dass die Leute aufschrien (was er allerdings mehr sah als hörte) und zur Seite sprangen; er bewältigte die Herausforderungen plangemäß, alles lief nach Plan.

Parkour durch den Supermarkt

Nach dem Vorbild der Trend- und Extremsportart Parkour, bei der es darum geht, unter Überwindung sämtlicher Hindernisse einen möglichst kurzen Weg von A nach B zu nehmen, rast der jugendliche Protagonist Mo durch den Supermarkt. Was nach Ansicht der Erwachsenen, die von nichts eine Ahnung haben, nur ein Attentat sein kann.

Der Journalist Erich Wackernagel war ruhig, so ruhig, wie man in einer solchen Situation nur sein konnte, es stimmte, was man sagte, dass man sich wie von oben sah, den vor einem liegenden Weg sah, die Linie, die den vor einem liegenden Weg beschreibt; alles ganz ruhig und unter Kontrolle. Das ist ein Anschlag, sagte er leise, ein Anschlag.

Im allgemeinen Chaos

Ein Anschlag ist ein gefundenes Fressen für die Medien. Bald ist das Radio da und ein Kamerateam und die Medien berichten, ehe sie wissen, was es zu berichten gibt. Die anwesende Politikerin gibt Interviews. Der zufällig ins Geschehen involvierte Journalist nimmt im Supermarkt einen Anruf entgegen und gerät im allgemeinen Chaos unversehens in eine Verwechslungskomödie, wie sie von der Realität gar nicht so weit entfernt ist:

Wer spricht da? Und was wollen Sie?, fragte Erich Wackernagel. Was sind Ihre Anliegen? fragte die Frau, die noch ein wenig einschmeichelnder klang als vorhin; aber nicht mit ihm, was wollten die eigentlich? Und wer sprach da überhaupt? Ich verstehe Ihre Frage nicht, sagte Erich Wackernagel ungehalten. Was soll das?
Können wir etwas für Sie tun? Brauchen Sie Hilfe? Verletzte? sagte die Frau, ungerührt, wie ihm schien.
Ja. Ja, natürlich. Einen. Kopfverletzung, entgegnete Erich Wackernagel. Er hat, er wollte... nein, also eigentlich zwei Verletzte; die Situation ist unter Kontrolle. Keine akute Gefahr mehr. Das ist das Wichtigste. Aber wer sind Sie überhaupt? Wie viele sind es? Fragte die Frauenstimme.
Zwei Verletzte, sag ich doch.
Ich meine: Sind Sie allein?
Ja, ich bin allein mit ihm fertig geworden, sagte Erich Wackernagel, ließ die Frage noch einmal nachklingen, die Stimme provozierte ihn entschieden, und er setzte zum Gegenangriff an: Wer spricht da eigentlich?
Das JedenTagBlatt, sagte die Stimme.


Der Rest des Geschehens ist ein Selbstläufer, der beträchtlichen Kollateralschaden anrichtet.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Donnerstag, 14. August 2008, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 17. August 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Olga Flor, "Kollateralschaden", Zsolnay Verlag

Link
Zsolnay Verlag - Kollateralschaden