Gretel Adorno und Walter Benjamins Briefwechsel

Schreibe doch recht schnell!

Es sind kurze Nachrichten und ausführliche Schilderungen, verschmitzte, humorvolle, fürsorgliche, müde und verzagte Texte, die den Briefwechsel zwischen Walter Benjamin und der promovierten Chemikerin Gretel Adorno bestimmen.

Die promovierte Chemikerin Margarete Karplus, geboren 1902, begegnete Walter Benjamin in den späten 1920er Jahren durch Vermittlung ihres Verlobten Theodor Wiesengrund Adorno, der häufig nach Berlin kam und Gretel, wie sie sich selbst nannte, in den Kreis um Walter Benjamin, Ernst Bloch, Kurt Weill, Hanns Eisler und Bertolt Brecht einführte. Zwischen Walter Benjamin und Gretel Karplus entwickelte sich ein besonderes Vertrauensverhältnis, dokumentiert durch ihren Briefwechsel, der sich ab 1933, nachdem Gretel Benjamin dringend zur Emigration nach Paris geraten hatte, intensivierte.

Detlef und Felicitas

Um in Deutschland noch publizieren zu können, hatte Walter Benjamin für seine Arbeiten das Pseudonym Detlef Holz gewählt. Mit diesem Vornamen sprach Gretel ihn in ihren Briefen an. Sie selbst unterzeichnete mit "Felicitas" in Anspielung auf die gleichnamige Figur in dem Bühnenstück "Ein Mantel, ein Hut, ein Handschuh" von Walter Speyer, an dem Benjamin mitgearbeitet hatte. Benjamin greift den Spielball auf, und die Beziehung zwischen diesen Alter Egos ist für Gretel "vielleicht das Festeste, was ich habe, das Einzige, worauf ich mich verlassen möchte, ohne immer ängstlich und wachsam sein zu müssen".

Gretel verwaltet Benjamins in Berlin zurückgelassene Bibliothek, aus der sie nach seinen Anweisungen Bände verkauft oder ihm schickt. Ihre postalischen Geldanweisungen, die "rosa Zettel", retten Benjamin häufig aus seiner Armut.

Zukunftsangst

Nach 1933 geht es auch Gretel Karplus finanziell schlechter, bis sie schließlich gezwungen ist, ihre Lederwarenfabrik mit über 200 Mitarbeitern, die sie zunächst als Teilhaberin und schließlich allein führte, zu liquidieren. Vor der Eheschließung mit Adorno 1937 gesteht sie dem zehn Jahre älteren "Beichtvater" Zweifel an dem seit Jahren erwarteten Schritt:

Ich kenne Teddies Bedürfnis nach Glanz, Schönheit und Abwechslung, wo soll ich das alles stets herschaffen, jetzt da ich längst nicht mehr ganz jung und ohne jedes eigene Einkommen und ohne jeden Besitz bin?

Exil in den USA

Mit der Hochzeit und der anschließenden Übersiedelung der Eheleute Adorno in die USA erweitert sich der Schriftverkehr. Theodor W. Adorno und Walter Benjamin korrespondieren über ihre Arbeit, wobei Gretel häufig vermittelt, und Detlef und Felicitas halten an ihrem Zwiegespräch fest.

Sie versucht, den zögernden Benjamin nach Amerika zu locken, doch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs macht diese Pläne schließlich zunichte. Ihre letzten Briefe sind aus Zensurgründen zu einem Großteil auf Französisch respektive Englisch geschrieben.

"Lass uns hoffen", schreibt Benjamin im Herbst 1939 auf Französisch, "dass wir eines Tages, wenn die Welt vom hitlerischen Albtraum befreit ist, nicht so weit voneinander entfernt leben werden."

Produktives Kollektiv Adorno

Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Ein Jahr später wählte Benjamin in einer ausweglosen Situation auf der Flucht den Freitod. Gretel Adorno kehrt Anfang der 1950er Jahre, etwas früher als ihr Mann, nach Frankfurt zurück und beide geben gemeinsam eine erste zweibändige Ausgabe mit Werken von Walter Benjamin heraus.

In den Jahren, die sie in den USA verbrachten, war aus dem Ehepaar Adorno ein produktives Kollektiv geworden: Adorno diktierte seiner Frau nach Notizen, diese tippte die Arbeiten ins Reine, korrigierte und lektorierte sie.

In Frankfurt wurde Gretel Adorno wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Sozialforschung. 1993, 24 Jahre nach ihrem Mann, starb sie nach langer Krankheit in Frankfurt/Main.

Mehr zu Theodor W. Adorno in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
Hörbilder Spezial, Freitag, 15. August 2008, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Henri Lonitz (Hg.), "Briefwechsel Walter Benjamin / Gretel Adorno 1930 - 1940", Suhrkamp Verlag

Link
Internationale Walter Benjamin Gesellschaft