In Albanien boomt das geschriebene Wort

Viele Schreiber, wenige Leser

Was Goethe genau meinte, als ihm kurz vor seinem Tod die Worte "Mehr Licht" über die Lippen kamen, wird bis heute diskutiert. Die albanische Literaturzeitschrift mit selbigem Namen hält an ihrer Interpretation fest: mehr Licht für das Land.

"Mehr Licht!" waren Goethes letzte Worte, bevor er am 22. März 1832 Weimar verstarb. Er wollte, dass man ihm die Fensterläden öffne, damit es heller würde im Zimmer, sagen die einen. Die anderen finden das zu profan: Mit diesem Ausruf brachte Goethe zum letzten Mal seine Verzweiflung über sein grundsätzliches menschliches Unwissen, sein Verlangen nach mehr Aufklärung zum Ausdruck, meinen sie.

Die Literaturzeitschrift "Mehr Licht" aus Tirana hat sich erstere Interpretation als Leitmotiv genommen: einfach nur mehr Licht nach Albanien zu bringen.

Neue gesellschaftliche Bezugspunkte

1996, sechs Jahre nach dem Ende des Hoxha-Regimes, gab die Schriftstellerin Mira Meksi, zugleich Direktorin des privaten Senders Alsat TV, die Zeitschrift als das erste in Albanen existierende private Kulturmagazin heraus.

Seitdem ist "Mehr Licht" in Albanien ein Forum für das, was Goethe im Allgemeinen als "die Literatur" bezeichnete: Geprägt von einem humanistischen Kulturverständnis soll Literatur als multikulturelles Ganzes abseits nationaler und idealistischer Verankerungen dem Land mehr Inspiration und Orientierung geben. "Wir wollten nie eine bloße literarische Rundschau sein, sondern Teil eines neuen gesellschaftlichen Wertesystems", beschreibt der Redaktionsleiter Salvatore Doda die hohen Ambitionen der heute renommierten Zeitschrift.

Sturz des Wertsystems mit Sturz des Regimes
Den politischen und sozialen Kontext jener Zeit schildert er extrem haltlos. "Nach fast 50 Jahren Diktatur und hermetischer Isolation des Landes gab es 1990 mit dem Sturz des Regimes auch einen Sturz im kulturellen Wertesystem: es gab keines mehr."

Von der neuen Meinungsfreiheit waren viele Literaten inspiriert, die sich plötzlich völlig frei von staatlicher Kontrolle befanden - doch es fehlte an einem Forum zur Diskussion eines neuen, demokratischen Wertesystems. "Es gab damals ein großes Bedürfnis, mehr Licht in diese haltlose, aber zugleich sehr produktive kulturelle Phase zu bringen", meint Doda.

Wohl nirgendwo sonst in Europa gibt es mehr Grund, sich über zu wenig Licht zu beklagen als in Albanien: Das Land ist bekannt für regelmäßige Stromausfälle, die großteils verarmte Bevölkerung wartet oft 6-10 Stunden auf funktionierende Elektrizität. Kann hier überhaupt ein Interesse an Literatur gedeihen?

Literaturzeitschriften florierten ab 1880
Literaturmagazine waren für die albanische Identitätsbildung schon immer eine tragende Säule, meint Doda. Das stimmt: Ab 1880 sprossen albanischsprachige Zeitschriften nur so aus dem Boden aller größeren Städte des Balkans, wie auch in Konstantinopel, Sofia, Bukarest, Thessaloniki und Athen. Sie brachten die Ideale einer nationalistischen albanischen Bewegung bis in die entlegensten Ecken des albanischsprachigen Gebietes.

Nach der kommunistischen Übernahme Albaniens 1944 kam ein plötzliches apokalyptisches Ende für Literaten und Verleger. Viele Autoren wurden hingerichtet oder starben im Gefängnis. Enver Hoxha machte aus dem Land ein kulturelles Ödland. Erst in den späten fünfziger Jahren kam wieder Literatur, wenn auch unter völliger staatlicher Kontrolle, ans Tageslicht.

Schreibwut psychologisch erklärbar
Heute habe das Land mehr schreibende als lesende Menschen, erzählt Doda: "Nachdem den Albanern so lange Zeit die Meinungsfreiheit verwehrt wurde, gibt es nun ein übergroßes Bedürfnis, Meinungen, Befürchtungen, Gedanken zu äußern". Doda erklärt diese Entwicklung als ein psychologisches Phänomen. Das sei auch das Grundthema neuer albanischer Literatur: Meinungsgeladene Befindlichkeiten zu allen gesellschaftlichen Themen zu äußern. "Das Interesse am Schreiben ist groß, das am Lesen klein."

Pflichtlektüre an Schulen
Das Lesen wird vor allem der jungen Bevölkerung mittlerweile auch wieder staatlich verordnet: "Mehr Licht" wird im Literaturkanon der albanischen Mittelschulen eingesetzt. Das Ministerium für Kultur unterstützt die Zeitung auch finanziell. Der Großteil der Mittel für die nicht-profitorientierte Zeitung kommt allerdings aus der privaten "Velija-Stiftung", aus der sie, so wie auch Alsat-TV, entstanden ist: der Geschäftsmann Vebi Velija war überzeugt, dass "eine Nation zwar mit wenig Nahrung, aber niemals mit wenig Kultur existieren kann". Vorausgesetzt, es gibt Kerzen.

Link
Velija-Stftung
Alsat TV
Eurozine - Mehr Licht

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