Geschichte der Sexualität in Europa

Die Verwandlung der Lust

In den vergangenen Jahrhunderten wurde Sexualität immer wieder unterdrückt und dämonisiert. Eben dies aber, so behauptet der französische Kulturhistoriker Robert Muchembled, habe positive Wirkung auf die Entwicklung der westlichen Moderne gehabt.

Robert Muchembleds Untersuchungen beginnen in der Renaissance, als der Krieg, den das Christentum seit jeher gegen das "sündige Fleisch" führte, grausamer wurde. Geschlechtsverkehr durfte nur in der Ehe und zum Zweck der Zeugung stattfinden. Für andere Formen von Sexualität wurden Strafen und ewige Verdammnis in Aussicht gestellt. Wie massiv die sexuelle Repression der Zeit war, belegen im 16. und 17. Jahrhundert zahlreiche englische und französische Prozessakten.

Allerdings ist das Bild der Zeit so klar auch wieder nicht. Der Autor stellt den in Gerichtsarchiven gesammelten Daten Lektionen aus der "Schule der Mädchen" gegenüber, einem hocherotischen zeitgenössischen Werk mit weiter Verbreitung, in dem der weibliche Orgasmus im Mittelpunkt steht und sexuelle Praktiken detailreich geschildert werden. Diese Mischung aus Sinnenfreude und gleichzeitiger Bekämpfung derselben blieb nicht ohne Folgen:

Solche Spannungen in der Kultur führten schließlich dazu, dass für lange Zeit Wollust mit Verfehlung und Strafe verknüpft wurde: Leiden im Genuss erwartet all jene, die mit Körper und Seele gegen Verbote und Tabus verstoßen.

Über Verbote immer wieder hinweggesetzt

Dieser normative Druck habe die Menschen immer mehr beunruhigt, wenngleich sich, so der Autor, Lust und Leidenschaft immer wieder über Verbote hinweggesetzt hätten. Wie Quellen belegen, nahm sich das Volk, in den Städten wie am Land, viele sexuelle Freiheiten heraus. Der Autor zitiert hier zum Beispiel ganz erstaunliche Zeugnisse über Ausschweifungen von Männern und auch Frauen aus dem puritanischen England.

Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass - insgesamt betrachtet - weibliche Sexualität immer durch Männer definiert und kontrolliert wurde, während diese selbst - durch eine beständig herrschende Doppelmoral - stets in den Genuss zahlreicher sexueller Privilegien kamen.

Restriktionen und Lockerungen

Die Geschichte der neuzeitlichen Sexualität ist von verschiedenen Phasen gesellschaftlicher Moral geprägt, in denen Restriktionen und Lockerungen einander ablösen. Robert Muchembled zeichnet anschaulich nach, wie auf das strenge 16. und 17. Jahrhundert die Epoche der Aufklärung mit einer beachtlichen Freizügigkeit der Sitten und einer regelrechten Flut an pornografischen Schriften folgt, um im 19. Jahrhundert wiederum vom sehr repressiven "viktorianischen Zeitalter" abgelöst zu werden.

Allerdings ist der Autor in seine These von der dialektischen, in den Repressions- und Sublimierungsphasen "umwegproduktiven" Lust und der obrigkeitlichen Willkür so verliebt, dass er eine wesentliche Ursache von Angst und Unterdrückung vernachlässigt: die Geschlechtkrankheiten, allen voran die Syphilis, die anfangs selbstverständlich als Gottesstrafe angesehen wurde. Deren künstlerische Sublimierung wäre allein ein eigenes Kapitel wert gewesen.

Obskure Gefahr für Leib und Seele

Den "Viktorianismus" dehnt der Autor weit über die Regierungszeit der Königin Victoria aus - von 1800 bis vor die "sexuelle Revolution" um 1960 - und widmet ihm eines der spannendsten Kapitel des Buches. Mit der Dominanz der Medizin auf sexuellem Gebiet habe sich in dieser Phase die gesamte körperliche Lust zur Krankheit und obskuren Gefahr für Leib und Seele, ja, für die ganze gottgewollte Ordnung verkehrt.

Die Wurzeln des Modells reichen weit zurück, bis in die klösterliche Tradition des Mittelalters. In ihm kommt die Angst vor einer nicht zu beherrschenden Sexualität zum Ausdruck, die direkt mit den Vorstellungen vom Ich und der Gesellschaft verbunden ist. Da der Orgasmus zum Verlust der Selbstkontrolle führen kann, wird er zum Symbol für die Unordnung der Welt.

Verteufelte Selbstbefriedigung

Im Sinne von Sparsamkeit und Mäßigung, dem neuen Credo von Bürgertum und Mittelschichten, entwickelt sich eine - wie der Autor es nennt - "libidinöse Ökonomie", bei der Triebkontrolle im Vordergrund steht. Ärzte warnen vor ungezügelter sexueller Leidenschaft, und besonders verteufelt wird die Selbstbefriedigung: als gesundheitsgefährdende Verschwendung von Lebensenergie, die sogar zum Tod führen kann. Um dieser "einsamen Angewohnheit" Herr zu werden, lassen sich Mediziner und Erfinder allerhand Abstruses einfallen.

In England empfiehlt J. Laws Milton (...) Warnvorrichtungen, die entweder den Schlafenden durch einen Alarmton wecken oder bei Berührung einen schmerzhaften Druck auf den Penis ausüben. (...) In einem Katalog von 1904 bietet die Firma Mathieu aus Paris verschiedene Apparaturen gegen Onanie an, insbesondere Metallgürtel für Jungen und Mädchen, die ähnlich wie Keuschheitsgürtel aussehen und die es auch "in Form hermetisch geschlossener Unterkleider" gibt. Wahlweise haben sie Öffnungen für Arme und Beine sowie, Gipfel der Raffinesse, "Fäustlinge aus Metall für die Hände, die wie Reibeisen geformt sind.

Das "Zeitalter der Lust"

Die Unterdrückung der Sexualität ging aber noch wesentlich weiter und erfasste, mittels Tabuisierung, den gesamten Alltag. Alles miteinander, so konstatiert Muchembled, ein geeigneter Nährboden für Traumata und Neurosen.

1960 sei dann das "Zeitalter der Lust" angebrochen, das Zeitalter einer von der Fortpflanzung getrennten Sexualität. Die Pille ermöglichte Frauen, erstmals in der Geschichte, selbst über ihre Sexualität zu bestimmen, Tabus wurden gebrochen, der Mensch integrierte sein "Recht auf Lust" in neue Vorstellungen von Individualität und Selbstverwirklichung. Hier weist Muchembled ausdrücklich auf die starken Unterschiede zwischen dem sehr liberalen und säkularen Europa und den weiterhin stark von religiös-konservativen Werten bestimmten Vereinigten Staaten hin - allein: Schlüsse daraus zieht er keine.

Kuriosa und Details

Der Autor scheint überhaupt der Faszination seines Generalthemas erlegen zu sein und, seinem Hang zum bunten historischen Bilderbogen, zu Kuriosa und anschaulichen Details frönend, vergisst praktisch darüber seine These von der unterdrückten Lust als Motor für anderweitige Innovationen, auch im Klappentext noch vollmundig formuliert.

Lässt man aber den hochtrabenden Anspruch - mitsamt dem "abendländisch" im Untertitel - beiseite und will einfach Genaueres über die Alltagsgeschichte der Sexualmoral in England und in Frankreich erfahren, dann empfiehlt sich Robert Muchembleds Buch als informative, unterhaltsame und über weite Strecken auch spannende Lektüre.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Robert Muchembled, "Die Verwandlung der Lust. Eine Geschichte der abendländischen Sexualität", aus dem Französischen übersetzt von Ursel Schäfer, Deutsche Verlags-Anstalt

Link
DVA - Die Verwandlung der Lust