Musikalische Höchstleistung - ein Kinderspiel?
Ist es ein Wunder?
Musikerinnen und Musiker, die von frühester Kindheit an Höchstleistungen bringen - steckt dahinter tatsächlich die große Begabung, das "Wunder", oder handelt es sich um das Ergebnis harter Disziplin auf Kosten einer unbeschwerten Kindheit?
8. April 2017, 21:58
Hochbegabte junge Musikerinnen und Musiker werden oft wie Wunderwesen angestaunt und vorgeführt, bis sie das Erwachsenenalter erreichen und unter enormem Druck beweisen müssen, dass ihr Talent und Können auch jenseits des jugendlichen Alters den Erwartungen von Publikum und Kritik standhält - überstrahlt doch die Faszination über das hochbegabte Kind oft das Interesse an der Musik. "Wunderkinder" fühlen sich oft als Künstler nicht ernst genommen und sehen ihre Arbeit im Kulturbetrieb nicht ausreichend gewürdigt.
Üben, üben und noch einmal üben
Julian Rachlin, der bereits als Dreizehnjähriger auf den großen Bühnen der Welt stand, beschreibt den großen Druck, der auf ihm lastete: "Du weißt, dass sich alle ein Wunder erwarten - und bist dann wie gelähmt."
Der chinesische Pianist Lang Lang fasst die Realität eines "Wunderkindes" mit den lapidaren Worten "practise, practise, practise... and practise" zusammen und fügt hinzu: "Unfortunately it is necessary."
Mozart als großes Vorbild
Im Wien des 19. Jahrhundert traten in Veranstaltungslokalen, Konzertsälen und Varietés zahlreiche "Wunderkinder" auf. Anders als bei Mozart dominierte in deren Leben jedoch nicht die Freude an der Musik, sondern der Zwang. Das Beispiel des Musikgenies Mozart inspirierte viele Eltern dazu, ihren Kindern Höchstleistungen abzuverlangen und sie von klein auf in alltäglicher Schwerarbeit zum "Wunderkind" zu erziehen.
Die Motivation war vor allem die ökonomische Situation von überwiegend aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Familien, die auf diese Weise zu Wohlstand gelangen wollten.
Die Leiden des jungen Ludwig van Beethoven
Das Beispiel Mozarts bestimmte auch die Kindheit Ludwig van Beethovens, dessen Vater aus ihm ein Genie machen wollte. Oft holte er das Kind nachts aus dem Bett um mit ihm am Klavier zu üben. Schläge gehörten dabei zur erzieherischen Routine.
Dennoch schaffte es Ludwig, den Wünschen seines übermächtigen Vaters zu entsprechen: Bereits mit 14 Jahren erhielt er eine Anstellung als Hoforganist in Bonn. Beethoven wurde der große Musiker und Komponist, zu dem ihn sein Vater erziehen wollte - glücklich war er Zeit seines Lebens nie.
Selbstzerstörung und Krankheit
Beethovens Biografie entspricht in heutiger Zeit die Lebensgeschichten der japanischen Violinistin Midori, deren ehrgeizige Mutter die Tochter bereits im Alter von zwei Jahren im Geigenspiel unterrichtete. Das Volksschulkind musste täglich stundenlang alleine üben. Die Mutter wachte streng über ihre Fortschritte und kritisierte sie unbarmherzig.
Als Jugendliche wurde Midori durch eine innere Stimme gequält, die sie unablässig kritisierte. Nach Konzerten übte sie oft stundenlang jene Passagen des eben gespielten Konzertes, die sie selbst als unzureichend erlebt hatte. Midori erkrankte schließlich lebensgefährlich an Anorexie und musste sich vorübergehend aus dem Konzertbetrieb zurückziehen.
Hochbegabung in allen Musiksparten
Dem Phänomen Hochbegabung begegnen wir auch in der Rockmusik und im Jazz. Miles Davis, John Coltrane, Michael Bloomfield und Jimi Hendrix waren genauso begabt wie ihre "klassischen" Kollegen. Viele Künstler und Künstlerinnen in der Unterhaltungsindustrie scheitern jedoch an schlechter Beratung, mangelnder Erfahrung im Umgang mit dem plötzlichen Reichtum und dem Fehlen von familiärem und sozialem Rückhalt.
Der Griff nach Drogen, die helfen sollen, das anstrengende Leben zu bewältigen, führt oft zum vorschnellen Ende der Karriere.
Die Voraussetzungen für das musikalische "Wunder"
Eine möglichst früh einsetzende Förderung in einem musikalischen Umfeld, in dem auf liebevolle und respektvolle Weise Lust auf eigenes Experimentieren, Neugier auf Unbekanntes und die Freude am gemeinsamen Tun in einer angstfreien Atmosphäre verschmelzen, ist die Grundvoraussetzung für spätere Höchstleistungen.
Das beginnt mit Liedern, die wir unseren Kindern vorsingen, ebenso wie mit Aufmerksamkeit in Bezug auf die Interessen und Vorlieben des Kindes. Egal ob Rhythmikkurs, musikalische Früherziehung, Kinderchor oder Instrumentalunterricht: Der Spaß an der Sache sollte niemals zu kurz kommen.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 25. bis Donnerstag, 28. August 2008, 9:45 Uhr