Essays aus 40 Jahren

Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben

Joan Didion versteht sich als Journalistin und als Schriftstellerin, ihre Romane halten sich an die Realität und ihre Reportagen sind literarisch abgefasst. Sie gilt als Legende des "New Journalisme", war aber mit dieser Einordnung nie zufrieden.

Joan Didion prägt Amerikas Leben mit ihren gesellschaftspolitischen Essays seit 40 Jahren und zwar mit dem Mittel der Demontage. Joan Didion zerschlägt mit großer Lust und Könnerschaft: Denkmuster, Sentimentalitäten, Sprachklischees, gesellschaftliche Übereinkünfte, wie etwas zu sehen sei. Denn: Sie sieht es garantiert anders. Joan Didion ist die Reporterin mit dem kalten Blick, die schreibt, um herauszufinden, was sie eigentlich denkt. Antje Ravic-Strubel, Didions Übersetzerin ins Deutsche, hat einmal etwas Ähnliches gesagt: "Schreiben bedeutet, sich das eigene Denken anzusehen". Wie soll das funktionieren?

"Das funktioniert wahrscheinlich auch nicht", meint Ravic-Strubel, das sei "als würde man sich am eigenen Schopf hochziehen wollen. Wie will ich mein eigenes Denken analysieren, wo ich gar keinen Abstand dazu habe? Aber an anderer Stelle schreibt sie (Didion), dass wie ein Autor oder eine Autorin einen Satz strukturiert, im Grunde dieses Denken abbildet.(...) Egal, ob sie über die Studentenunruhen in Berkely schreibt oder ob sie einen der Chefs der Black Panther Party im Gefängnis besucht oder zu den Blumenkindern nach San Francisco fährt, es geht in erster Linie darum, wie gestalten wir uns die Welt oder wie erfinden wir uns Geschichten, um diesem Leben einen Sinn abzugewinnen."

Am Ende ihres ernüchternden Beitrags über die Flower-Power-Ära steht allerdings: "das Schreiben hat mir bisher nicht geholfen, den Sinn zu verstehen."

Die Wahrheit hervorzerren

Der erste Satz heißt: "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben." Zwischendrin passiert die Desillusionierung: Eldridge Cleaver, Quasi-Informationsminister der Black Panther Bewegung. Er ist nur ein Geschäftsmann; und der schwarze Mordverdächtige, den Didion im Gefängnis besucht: Er ist nur Cleavers Sprechpuppe; die Hippies - sie sind seelisch verwahrloste Leute, die auf Künstler machen und ihre Babys mit Drogen ruhig stellten; Jim Morisson allerdings, der schwarze Lackhosen ohne Unterwäsche trägt, hat Joan Didion nachhaltig beeindruckt. Sie rechnet ihm hoch an dass er darauf bestand, "dass Liebe Sex war und Sex der Tod und dass darin die Erlösung liegt."

Wenn man Joan Didions Arbeit positiv sieht, würde man sagen: Sie zerrt die Wahrheit auch noch hinter der geschicktesten Lüge hervor. Wenn man ihre Arbeit skeptisch betrachtet, sieht man jemanden, der zerstört die Geschichten, die sich Menschen zum Trost über sich selbst erzählen, indem sie sie als Selbstbetrug entlarvt. Und tut dabei selbst nichts anderes: Ihr Erzählen kündet ja auch von der Hoffnung, einen Zusammenhang im vorgeblich Unzusammenhängenden zu finden, eine Bedeutung im vorgeblich Sinnlosen.

Psychische Störungen

Auf dem Campus des San Francisco State College entdeckte Joan Didion 1968 einen Aushang am Schwarzen Brett der Cafeteria, der zu einem "Treffen des Argitt-Prop-Komitees im Redwood Zimmer" einlud. Und versteht nicht die Alarmiertheit eines Bürgertums, das - Zitat - "mit Gewalt gegen Guerillas vorgehen wollte, die ihre Treffen nicht nur am Schwarzen Brett des Feindes ankündigten, sondern auch noch völlig unbedarft waren, was die Schreibweise und demzufolge auch was die Bedeutung der Worte betraf, die sie benutzten."

Damals, als Joan Didion das auf ihrer Reiseschreibmaschine tippte, war sie in ihren Dreißigern. Sie arbeitete für die "Vogue", für "Life", schrieb Romane, heiratete einen Schriftsteller, erhielt mit ihm zusammen einige lukrative Drehbuchaufträge aus Hollywood, wurde neben Nancy Reagan zur "Frau des Jahres" gekürt. Und litt - wie sie der Welt nicht verhehlte - unter schlimmen seelischen Störungen. Das in Teilen abgedruckte psychiatrische Gutachten spricht von einer Persönlichkeit im Zustand der Auflösung. Joan Didion reicht dieses Urteil unerschrocken weiter, ist es ihres Erachtens doch eine Metapher für die Welt, die sich im Zustand der Auflösung befindet. Und sie ist nur der Spiegel.

Der direkte Blick

Auch ein anderes Geständnis verblüfft: Im Sommer 1943 sah Joan Didion John Wayne "zu einem Mädchen sagen, dass er ihr ein Haus "an der Biegung des Flusses, wo die Pappeln wachsen, bauen würde." In einem regelrechten Fan-Essay über den amerikanischen Schauspieler schreibt sie, dass sie nie einen wie John Wayne getroffen habe. Und weiter:

Tief im Herzen, dort, wo der künstliche Regen für immer fällt, ist das noch heute der Satz, auf den ich warte.

Für eine erklärte Feindin der Illusion ist das schon eine unheimliche Liebeserklärung. Aber Joan Didion schien auch kämpferische, autarke Frauen zu mögen, wie der Essay über die Malerin Georgia O'Keefe beweist.

"Man könnte schon sagen, dass sie die Härte und Kompromisslosigkeit, die sie auch an Georgia O'Keefe bewundert, dass sie die auch auf sich selbst bezieht", so Ravic-Strubel. "So sind ja auch ihre Texte angelegt. Der direkte Blick, man lässt sich nicht beeindrucken. (...) Georgia O'Keefe ist die Einzelkämpferin, die Eigensinnige, die sich auch gegen die Männerwelt, die ja bei ihr noch extremer war, wehrt und sagt, ihr könnt mich mal. Ich mach das genau anders als ihr. Es sind zwei interessante Arten von Bewunderung, die sie da hat."

Schwerelose Eleganz

Joan Didion ist eine unerschrockene und kampfeslustige Kommentatorin unserer Zeit - eine rare Figur. Ihre besten Texte aus dem vorliegenden Buch haben all das: einen einzigartig rauen Charme, sind gelegentlich von schwereloser Eleganz, und von einem auch gegen sich selbst rücksichtslosen Willen, die Wirklichkeit zu erkennen, geprägt.

Dass auch Joan Didion ihre schwachen Seiten hat, wenn sie über John Wayne und Jim Morrison schreiben soll, verzeiht man gerne, denn die meisten dieser 40 Jahre alten Essays besitzen den Mut zur Kühnheit. Und der überrascht den Leser 2008, weil er so etwas schon lange nicht mehr in der Zeitung gelesen hat.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 24. August 2008, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Joan Didion, "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben", aus dem Englischen übersetzt von Antje Ravic-Strubel, Claassen Verlag