Ländliche und städtische Armut

Zum Leben zu wenig

Arme irritieren, "befremden" uns - im eigentlichen Sinn des Wortes - und sie wecken manchmal sogar Ängste, indem sie uns die Schattenseite jener Gesellschaft vor Augen führen, in der schließlich wir alle leben. Sechs Prozent der Österreicher sind arm.

Viele der in der Öffentlichkeit sichtbaren Bettler sind Zuwanderer. Die akute oder latente Armut in der einheimischen Gesellschaft bleibt dagegen von den Andern meist unbemerkt: Sechs Prozent der österreichischen Bevölkerung, also immerhin eine halbe Million Menschen, sind arm; 570.000 Menschen gelten als armutsgefährdet, das heißt, ihr Haushaltseinkommen liegt unter der Armutsgrenze von 900 Euro im Monat.

Wieso gibt es heute noch Armut?

Zu allererst stellt sich natürlich die Frage, wie das zugeht, dass eine derart reiche Gesellschaft wie die unsere es nicht zustande bringt, allen Menschen ein finanzielles Auskommen und ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Robert Buggler, Sprecher der Armutskonferenz Salzburg, meint, dass Armut immer auch ein Symptom dafür ist, dass in unserer Gesellschaft etwas nicht funktioniert.

Das kapitalistische System schafft nicht für alle Wohlstand. Ich denke, dass ist seit vielen Jahren bekannt, das wissen wir und es heißt auch, diejenigen, die daran Interesse haben, dass dieses System so bleibt wie es ist, haben gleichzeitig Interesse daran, Armut als Problem in den Hintergrund zu drängen.

Dieses Wegdrängen und Verstecken ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung, in deren Verlauf die Konzepte zur Armutsbekämpfung zwar immer wieder geändert wurden, die dahinter liegenden Grundhaltungen aber kaum.

Armut erst ein Problem ab dem Mittelalter

Dass arme Leute überhaupt als soziales Problem betrachtet werden, geschieht erst ab dem späten Mittelalter. Zuvor war Armut ein akzeptierter Teil der Gesellschaft, wobei die "milde Gabe", das "Almosen" an Bedürftige fixer Bestandteil der Armenversorgung außerhalb des Familienverbandes war.

Prekär wurde die Situation, als die Städte durch Zuzug vom Land immer größer wurden, und neue Produktionsformen neue Abhängigkeitsverhältnisse wie die Lohnarbeit und neue Arbeitslose schufen. Nun finden sich unter den Bettlern ehemalige Handwerker, Soldaten oder Tagelöhner - neben ländlichen Dienstleuten, Mägden und Knechten. Als die Wanderzüge der Armen merklich zunahmen, versuchten die Reichsstädte, die Bettelei möglichst restriktiv zu organisieren.

Würdige und unwürdige Arme

Wie sich der Blick auf Arbeit veränderte - immer mehr soziale Gruppen bezogen ihre Identität aus ihr - veränderte sich auch der Blick auf die Armut: Man unterschied zwischen "würdigen" und "unwürdigen" Armen; solchen, deren Lage unverschuldet war - etwa durch Krankheit, Unfall, Invalidität, Witwenschaft - und solchen, die man für selber schuldig ansah.

"Da tauchen dann so Figuren auf wie der "starke Bettler", das sind Bettler, die eigentlich arbeiten könnten, aber es eben vorziehen, zu betteln. Zumindest ist das die Sicht der Obrigkeit auf die Armut", meint der Wiener Historiker Martin Scheutz, "Und diese starken Bettler begleiten dann, eigentlich bis in die Gegenwart dieses Bild, das sich die Sesshaften von der Armut machen."

Sozialdisziplinierung der Armen

Im 17. Und 18. Jahrhundert wird die Armut "ökonomisiert": Wer körperlich dazu in der Lage ist, muss für seinen Lebensunterhalt arbeiten. Wer nicht arbeitet, gilt nicht nur als unehrenhaft und amoralisch, sondern auch als staatsschädigend: als "Feind der Gesellschaft".

Im Sinne dieser Sozialdisziplinierung entstehen Arbeitshäuser, Zucht- und Korrektionsanstalten, in die "starke Bettler", Vaganten und Angehörige anderer Randgruppen wie zum Beispiel Prostituierte oder aufmüpfige Mägde und Dienstboten ohne Gerichtsverfahren eingewiesen werden konnten.

Armut am Land

Die Disziplinierung "unwürdiger" Armer auf dem Land war meist mit einem erheblich größeren Aufwand verbunden als in den Städten. Vor allem bemühte man sich, diese Menschen so schnell als möglich loszuwerden - was im 18. Jahrhundert zu teilweise drastischen Maßnahmen wie Massenvertreibungen führte.

Die Situation der Mittellosen auf dem Land wurde noch zusätzlich durch die Tatsache verschärft, dass es kaum eine institutionelle Versorgung, wie zum Beispiel Hospitäler, gab. Auf dem Land gab es auch keine zünftigen Bruderhäuser für verarmte Handwerker und keine Pflichtkassen für einzelne Berufsstände - das waren Vorläufer der Versicherungen.

Wiederkehr eines alten Umgangstons

Der Blick auf die Armut ändert sich nochmals im 19. Jahrhundert, als sowohl "Arbeit" als auch "Eigentum" immer größere ökonomische, soziale und ideologische Bedeutung bekommen.

Eine neue Verschärfung des Umgangstones gegenüber jenen Armen, die als arbeitsfähig, aber -unwillig angesehen wurden, ist im Zuge der Weltwirtschaftskrise um 1930 zu registrieren. Die Debatten dieser Zeit weisen bereits auf den Nationalsozialismus und seine Verfolgung der so genannten "Asozialen" voraus, samt dem Sprachgebrauch wie "Parasiten", "Volksschädlinge" und dergleichen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Vollbeschäftigung und Expansion des Arbeitsmarktes, blieb das Thema im Hintergrund. Heute, in wirtschaftlich wieder prekärer gewordenen Zeiten, ist sie wieder verstärkt da, die Diskussion um "Sozialschmarotzer", die der Allgemeinheit auf der Tasche lägen.

Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 9. Oktober 2008, 19:05 Uhr